Wiederkehrender Krisenmodus als neue Normalität

Interview mit Frau Sandra Lathion-Zweifel

Frau Sandra Lathion-Zweifel ist Verwaltungsrätin in verschiedenen Schweizer Unternehmen und Organisationen.

Ihr Werdegang ist geprägt von Erfahrungen als praktizierende Anwältin bei einer grossen Kanzlei, in leitender Funktion bei Grossbanken und bei Aufsichtsbehörden, als Verwaltungsrätin in Grossunternehmen und von der strategischen Mitarbeit in Non-Profit-Organisationen. Ein Weg, der für die Schweiz eher ungewöhnlich ist, für Sandra Lathion-Zweifel aber Möglichkeiten eröffnete.

Im Gespräch mit Reto Eberle erörtert sie die strategische Einstellung auf wiederkehrende und vielschichtige Herausforderungen für Unternehmen, und welchen Stellenwert die Unternehmenskultur für die Attraktivität als Arbeitgeber hat.  

 

Prof. Dr. Reto Eberle

Partner, Mitglied des Department of Professional Practice

KPMG Switzerland

Reto Eberle: Sie sind seit 2018 als unabhängige Verwaltungsrätin tätig. Ihre Karriere begonnen haben Sie als Anwältin im Bereich Mergers & Acquisitions, bevor Sie in die Finanzbranche gewechselt haben. Was hat Sie zu diesem Wechsel bewogen?

Sandra Lathion: Ich war insgesamt sieben Jahre im Bereich Mergers & Acquisitions bei Lenz & Staehelin tätig. Nach einem Abstecher nach New York für einen zweiten Master of Laws kehrte ich zurück zur Kanzlei und hatte dort die Möglichkeit, sechs Monate als Secondee bei einer Schweizer Privatbank zu arbeiten. Dort kam ich das erste Mal mit Derivaten und strukturierten Produkten in Kontakt, und das hat mich dazu bewogen, während dieser sechs Monate die Händlerprüfung an der SIX zu machen, um dieses Wissen noch zu vertiefen. Ein paar Monate später erhielt ich ein Angebot von der Credit Suisse, das Legal Team für Finanzprodukte zu übernehmen. 

Dann ging es aber weiter. Von der Grossbank haben Sie zur FINMA und wieder zurück in die Anwaltschaft gewechselt haben. Solche Karrierewege sind eher im angelsächsischen Raum üblich als bei uns.

Ein solcher Weg ist tatsächlich eher die Ausnahme, aber für meine heutige Verwaltungsratstätigkeit ist die Vielfalt an Erfahrungen sehr wertvoll. Es ist ein grosser Vorteil, die verschiedenen Seiten des Marktes zu kennen. Ich habe die Branchenwechsel auch nicht aktiv gesucht, sondern das eine ergab sich aus dem anderen. Ich wechselte von Zürich zur FINMA nach Bern, weil mein Mann die Leitung des Familienunternehmens in der französischen Schweiz übernahm. Die Verantwortung für den Asset-Management-Bereich bei der FINMA war für mich eine interessante berufliche Herausforderung, welche es mir gleichzeitig erlaubte, mit meiner Familie in der französischen Schweiz zu leben. Als die erste Anfrage für ein VR-Mandat bei der Walliser Kantonalbank kam, musste ich mich entscheiden, in welche Richtung ich in Zukunft gehen möchte. So habe ich dann mein erstes VR-Mandat angenommen und musste als Folge dessen meine Funktion bei der Aufsichtsbehörde aufgeben. Die Tatsache, dass in der Schweiz solche Karrierewechsel weniger üblich sind, ist auch eine Kulturfrage. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass hiesige Unternehmen manchmal zögern, Quereinsteigerinnen oder -einsteiger aus einer anderen Branche einzustellen. Dies wiederum macht es für junge Fachspezialisten schwierig, Neues auszuprobieren und ihre Expertise in der Breite zu entwickeln.

Und schon bald nach der Walliser Kantonalbank wurden Sie für den Verwaltungsrat der Swisscom angefragt, in dem Sie seit 2019 Einsitz haben. 2021 folgte Raiffeisen Schweiz. Was gefällt Ihnen besonders an der Tätigkeit als professionelle Verwaltungsrätin?

Mit der zunehmenden Zahl an VR-Mandaten habe ich mich entschieden, meine anwaltschaftliche Tätigkeit aufzugeben. Das war der richtige Zeitpunkt, um den Schritt in die Unabhängigkeit zu wagen. Neben den VR-Mandaten kamen weitere Tätigkeiten für Advisory Boards in verschiedenen Organisationen dazu. Das vielfältige Portfolio von Tätigkeiten, das ich heute betreue, gefällt mir sehr. Ich bin unabhängig und erlebe verschiedene Branchen in unterschiedlichen Funktionen, in welche ich mein Know-how einbringen kann. Dabei helfen mir meine Erfahrungen aus meinen operativen und beratenden Tätigkeiten ebenso wie mein Wissen aus Sicht der Aufsichtsbehörde. 

Sandra Lathion-Zweifel in an interview with Prof. Dr. Reto Eberle

Mit Swisscom und Raiffeisen Schweiz sind Sie in zwei grossen Unternehmen engagiert, die beide eine besondere Aktionärsstruktur aufweisen, einerseits mit dem Staat als Eigentümer und andererseits mit einer Genossenschaftsstruktur. Gibt es da Gemeinsamkeiten oder Unterschiede zu einer Verwaltungsratstätigkeit bei Publikumsgesellschaften im eigentlichen Sinne?

Ein Unternehmen mit einem staatlichen Mehrheitsaktionär, welches gleichzeitig an einer Börse kotiert ist, ist einerseits an die Einhaltung von börsen-, aktien- und offenlegungsrechtlichen Vorschriften gebunden. Andererseits hat der Mehrheitsaktionär im Zusammenhang mit seiner Eignerstrategie gewisse strategische Erwartungen an die Unternehmung. Wichtig ist diesbezüglich, dass ein konstruktiver und wiederkehrender Dialog zwischen dem Unternehmen und dem Mehrheitsaktionär stattfindet, und dass der Mehrheitsaktionär versteht, dass das Unternehmen aufgrund seiner Kotierung an gewisse regulatorische und rechtliche Vorschriften gebunden ist, und dass die Rechte der anderen Aktionäre nicht beeinträchtigt werden dürfen.

Bei Raiffeisen Schweiz ist die Struktur etwas komplexer. Die Gruppe ist als Genossenschaftsverband strukturiert und Raiffeisen Schweiz befindet sich im Eigentum von rund 220 Raiffeisenbanken. Letztere haben ebenfalls eine Eignerstrategie mit Bezug auf Raiffeisen Schweiz verfasst. Jede Raiffeisenbank ist wiederum eine Genossenschaft mit ihren Bankkunden als Genossenschafter. Auch in einer solchen Struktur ist der Dialog mit den Eignern ein wesentliches Element für eine erfolgreiche strategische Unternehmensführung.

Wichtig ist diesbezüglich, dass ein konstruktiver und wiederkehrender Dialog zwischen dem Unternehmen und dem Mehrheitsaktionär stattfindet.

Stimmrechtsberater und Wirtschaftszeitungen erstellen regelmässig Rankings, wie gut die Verwaltungsräte und Geschäftsleitungen in Schweizer Unternehmen zusammenarbeiten. Das heisst, wie gut die Governance funktioniert. Diese Rankings stützen sich ausschliesslich auf öffentlich zugängliche Informationen. Ist es nicht viel entscheidender, wie die Governance und die Unternehmenskultur gelebt werden?

Gerade bei grösseren oder kotierten Gesellschaften sind sehr viele Informationen in den Jahresberichten und anderweitigen Reporten transparent verfügbar, und ein Grossteil dieser öffentlich zugänglichen Informationen betrifft im Prinzip die Governance. Am Ende sind aber natürlich die tatsächlich gelebte Governance und Unternehmenskultur entscheidend. Weitere Erfolgsfaktoren für einen gut funktionierenden Verwaltungsrat sind etwa die Vielfalt der Kompetenzen, eine klare Kommunikation innerhalb des Verwaltungsrats und gegenüber dem Management, eine unabhängige Entscheidungsfindung und eine gute Zusammenarbeit im Gremium. In Krisenzeiten kommen weitere Faktoren wie Anpassungsfähigkeit, Resilienz und nicht zuletzt auch zeitliche Verfügbarkeit hinzu. 

Prof. Dr. Reto Eberle

Die aktuelle Forschung zu dem Thema streicht die Unternehmenskultur immer wieder als massgebende Grösse im Compliance-Prozess heraus. Diese lässt sich jedoch nur schwierig messen und somit auch nicht einfach beeinflussen. Was sind Ihre Erfahrungen im Umgang mit der Unternehmenskultur auf höchster Führungsebene?

Um die Unternehmenskultur zu messen, muss man zuerst einmal eine Kultur definieren. Was sind die gemeinsamen Werte, Normen, Einstellungen und Ziele eines Unternehmens? Es braucht eine starke Führung, die die Unternehmenskultur vorlebt, unterstützt und kommuniziert. Die definierte Kultur muss glaubwürdig sein und bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der ganzen Organisation verankert sein. Transparenz, Vertrauen, eine offene und konstruktive Feedback-Kultur sowie eine hohe Wertschätzung gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sind wichtige Faktoren für eine gute Unternehmenskultur. Wenn man es schafft, dass die Leute auf der strategischen wie auch auf der operativen Ebene an das Unternehmen und seine Vision glauben, sind sie entsprechend auch bereit, die Leistung zu erbringen.

Es gibt Untersuchungen aus den USA, dass es viel mehr bringt, an der Kultur zu arbeiten, als immer neue Compliance-Vorgaben zu schaffen.

Je nachdem, in welcher Industrie ein Unternehmen tätig ist, gibt es strengere oder weniger strengere Compliance-Vorgaben, welche einzuhalten sind. Eine Überregulierung ist hingegen nicht zielführend. Die Befolgung der anwendbaren Compliance-Regeln sowie eine angemessene Governance sollten Teil jeder Unternehmenskultur sein und ebenso gelebt werden wie die anderen Werte und Grundsätze in einem Unternehmen. 

Sie sind Mitglied von verschiedenen Ausschüssen, sei das in einem Nominations-, Vergütungs- oder Prüfungsausschuss. Welcher Ausschuss ist heutzutage am meisten gefordert? Und wo hat sich die Themensetzung mit, nach oder durch die Pandemie verändert?

Ich bin aktuell Präsidentin eines Nominations- und Vergütungsausschusses und Mitglied von verschiedenen Audit- und ESG Reporting Committees. Der Vorsitz in einem solchen Ausschuss benötigt einen höheren zeitlichen Aufwand als die Teilnahme als Mitglied. Die Pandemie hat die Risikowahrnehmung nachhaltig verändert, und es werden andere, neue Risiken berücksichtigt. Die grössten Veränderungen sehe ich in den personalbezogenen Ausschüssen. Die plötzliche Einführung von 100 Prozent Home-Office von heute auf morgen, dann die sanfte Rückführung zu einer teilweisen Präsenz der Mitarbeitenden bis hin zu flexiblen Arbeitsmodellen, wie sie heute viele Unternehmen pflegen, stellt die strategischen wie auch die operativen Gremien vor neue Herausforderungen. Heute haben HR-Themen in vielen Unternehmen ihren festen Platz auf der Traktandenliste des Verwaltungsrats. 

Heute haben HR-Themen in vielen Unternehmen ihren festen Platz auf der Traktandenliste des Verwaltungsrats.

Bleiben wir doch noch bei den gerade erwähnten flexiblen Arbeitsmodellen. Wo sehen Sie Vorteile und wo Nachteile?

Je nach Tätigkeit kann eine Arbeit sehr gut von zuhause aus ausgeübt werden. Bei anderen Tätigkeiten wie beispielsweise beim Verkaufspersonal in einem Shop ist das nicht möglich. Flexible Arbeitsmodelle bedingen eine Anpassung des Führungsstils sowie der Zusammenarbeit und der Arbeitsweise im Team. Andernfalls besteht das Risiko, dass der Zusammenhalt, die Kreativität und die Zufriedenheit in den Teams verlorengehen. Hier eine gute Balance zu finden ist eine grosse Herausforderung, die je nach Branche und Grösse des Unternehmens etwas anders gelagert ist. 

Zurück zur Organisation von Verwaltungsräten und der Nachhaltigkeit. In einem ihrer Unternehmen haben Sie einen Revisions- und ESG-Reporting-Ausschuss. Diesem liegt wahrscheinlich die Idee zugrunde, dass das ESG-Reporting näher an das Finanzberichterstattung zu bringen. Ich habe aus Gesprächen mit anderen Verwaltungsräten den Eindruck, das sei die Form, welche sich momentan durchsetzt. Liege ich damit richtig?

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Aspekte der nachhaltigen Unternehmensführung auf strategischer Stufe zu implementieren. Sei es, dass das Thema ESG auf Stufe des Gesamtverwaltungsrates behandelt wird, sei es, dass die ESG-Themen auf verschiedene Ausschüsse aufgeteilt werden mit dem Reporting auf Stufe Audit Committee, dem Governance- und Risikoteil im Risikoauschuss, dem «Social»-Aspekt im Personalausschuss und den strategischen Aspekten im Strategieausschuss. Es gibt meiner Meinung nach kein Richtig oder Falsch. Wichtig ist, dass sich auf der strategischen Ebene diejenigen Personen mit dem Thema befassen, welche über die entsprechende Expertise verfügen, und dass das Thema im Endeffekt vollständig abgedeckt wird. 

Sandra Lathion-Zweifel in an interview with Prof. Dr. Reto Eberle

Neben der Nachhaltigkeit sind weitere Punkte auf der Risikolandkarte von Unternehmen wie der Arbeitskräftemangel, die Digitalisierung oder Cyber-Risiken. Was können und müssen Unternehmen konkret tun, um weiterhin attraktiv zu sein für Mitarbeitende? Und sind Nachhaltigkeitsaspekte ein Teil der Antwort?

Ja, Nachhaltigkeit ist sicher ein ganz wichtiger Faktor, um für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter attraktiv zu sein. Um Themen wie Nachhaltigkeit, Arbeitskräftemangel oder die zunehmende Digitalisierung meistern zu können, müssen die Unternehmen nicht nur ökonomisch, sondern auch ökologisch und sozial verantwortlich handeln. Studien zeigen, dass Kundentreue, Mitarbeiterbindung und Rentabilität bei nachhaltigen Unternehmen höher sind. Für viele Mitarbeitende ist Nachhaltigkeit heute ein explizites Kriterium bei der Arbeitgeberwahl. Sie legen Wert auf die Werteausrichtung des Unternehmens und wollen sich mit der Mission des Unternehmens identifizieren können. Es sind nicht nur der Lohn und die Work-Life-Balance, die stimmen müssen, sondern immer mehr auch Faktoren wie eine aktive Feedback-Kultur, transparente Entscheidungsprozesse, gelebte Unternehmenswerte und die Positionierung der Arbeitgebermarke, welche die Vision und Kultur des Unternehmens widerspiegelt. 

Sie haben Ihre Arbeit im Bereich unentgeltlicher Mandate erwähnt. Wie wählen Sie solche Engagements aus? Was ist Ihnen dabei wichtig?

Für mich ist es wichtig, dass ich mit dieser Tätigkeit der Gesellschaft etwas zurückgeben kann. Zum Beispiel bei SwissVR, das ist eine Vereinigung von Verwaltungsräten für Verwaltungsräte. Dort geben wir Verwaltungsräten die Möglichkeit, sich für einen geringen Jahresbeitrag in wichtigen aktuellen Themen weiterzubilden und Zugang zu einem breiten Know-how-Pool zu erhalten. In einer Fintech-Vereinigung, bei der ich ebenfalls engagiert bin, haben wir uns vor ein paar Jahren das Ziel gesetzt, gemeinsame und öffentlich zugängliche Standards für die Emission, den Vertrieb und den Handel von Wertpapieren in Form von Tokens mittels Distributed-Ledger-Technologie zu schaffen. Eine ganz andere Ausrichtung hat mein Engagement beim Lucerne Dialogue. Das ist eine Diskussions- und Impulsplattform für Entscheidungsträger aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Gesellschaft, die sich mit der Beziehung Schweiz-Europa befasst. Jede dieser Tätigkeiten ist für mich eine sehr wertvolle Horizonterweiterung. Ich bringe mein Wissen und meine Erfahrungen in die Advisory Boards ein und lerne gleichzeitig viel von anderen Mitgliedern aus verschiedenen Branchen und Industrien. 

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