Interview mit Prof. Dr. Peter Leibfried, Direktor am Institut für Accounting, Controlling und Auditing, Universität St. Gallen.

Prof. Dr. Peter Leibfried

Prof. Dr. Peter Leibfried

Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland stellen Unternehmen vor zahlreiche Herausforderungen. Worauf müssen Unternehmen nun bei der Rechnungslegung achten?

Das kommt ganz stark aufs Geschäftsmodell an. Akut betroffen sind vor allem diejenigen Unternehmen, für die Russland ein wesentlicher Absatzmarkt ist. Hier stellen sich Bewertungsfragen im Umlaufvermögen (Verwertbarkeit von Vorräten, Realisierung ausstehender Forderungen). Aber auch das Anlagevermögen kann betroffen sein: einerseits natürlich wenn man Vermögenswerte in Russland hat, andererseits kann aber auch die Werthaltigkeit von hiesigen Produktionsanlagen gemindert sein, wenn sich Absatzperspektiven wesentlich verändern.

Was mich aber viel mehr beschäftigt, sind die langfristigen Konsequenzen, vor allem im Bereich der Kostenstrukturen. Wir müssen uns auf dauerhaft höhere Rohstoffpreise, veränderte Lieferbeziehungen und einen kräftig ansteigenden öffentlichen Finanzbedarf einstellen. Und das nach zwei Jahren Corona, die auch schon deutliche Spuren hinterlassen haben. Das wird vielen Unternehmen auf die Profitabilität schlagen und den privaten Konsum belasten. Hieraus ergeben sich dann sehr handfeste Auswirkungen auf die Rechnungslegung, vor allem im Bereich der Bewertung. Ich hoffe, dass es zu keiner Abwärtsspirale kommt.

Wie ist die Wirtschaftsprüfung in der universitären Ausbildung insbesondere an der Universität St. Gallen positioniert?

Im schweizweiten Vergleich hat die Universität St. Gallen nach meinem Kenntnisstand die meisten Ressourcen in die Ausbildung im Revisionsbereich investiert – auch dank umfassender Unterstützung aus der Praxis wie zum Beispiel meinem KPMG-Lehrstuhl für Audit und Accounting. Die grosse Bedeutung von Rechnungslegung und Revision an der HSG geht historisch ganz weit zurück, bis in die 70er Jahre mit Prof. Dr. André Zünd, der dann ja auch die Swiss GAAP FER angestossen hat. Entsprechend ist der Master in Corporate Finance und Accounting (MACFin) seit Jahren das grösste deutschsprachige Masterprogramm der Universität, und überaus beliebt. Er kann gleichberechtigt auf Deutsch oder Englisch absolviert werden und enthält eine Vielzahl von Veranstaltungen zur Revision, zum Beispiel eine mehrtätige Prüfungssimulation oder Spezialisierungen zur Audit von Banken und Versicherungen oder zur Prüfung und Beratung von KMU. Eine Grundausbildung im Revisionswesen findet sich aber bereits im Pflichtprogramm des Bachelor, denn auch wer später nicht in die Wirtschaftsprüfung gehen sollte, wir mit einiger Sicherheit einmal als Prüfungskunde oder Empfänger von Finanzinformationen mit der Branche in Verbindung kommen. Da ist es wichtig, den Berufsstand und dessen Tätigkeit angemessen einordnen zu können. Und nach wie vor sind Rechnungslegung und Revision eine optimale handwerkliche Basis, um später auch allgemeine Führungsaufgaben zu übernehmen.

Immer wieder berichten die Medien über Finanzskandale, die für Kopfschütteln in der breiten Öffentlichkeit sorgen. Dabei bleiben die Wirtschaftsprüfer:innen von Kritik selten verschont. Wie können Wirtschaftsprüfer das Vertrauen in ihren Berufsstand stärken?

Ich kann diese öffentlichen Reaktionen grundsätzlich verstehen. Man erwartet von der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Elite eine mustergültige Verhaltensweise. Da passen manche Dinge nicht ins Bild, und das untergräbt das Vertrauen ins System. Allerdings: Enttäuschung ist nicht immer das Ergebnis schlechter Leistungen, sondern oftmals auch das Resultat falscher Erwartungen. Hier kann und muss der Berufsstand ansetzen, und tut das auch. Konkret dürfen wir nicht müde werden, die Erwartungslücke schliessen zu wollen. Also die Diskrepanz zu reduzieren zwischen dem was eine Revisionsstelle tatsächlich leisten kann, und dem was die Öffentlichkeit gerne von ihr hätte: Unternehmen sollen erfolgreich sein, alle Gesetze und Regelungen beachten, und niemals in Schwierigkeiten kommen. Das ist aber keine erreichbare Realität, sondern in einer dynamischen, freiheitlichen Wirtschaftsordnung eine Illusion. Hierüber muss der Berufsstand immer und immer wieder aufklären und informieren. Die Wirtschaftsprüfung tut bereits sehr viel, um die Risiken zu reduzieren – auch das müssen wir stärker betonen. So haben wir am Lehrstuhl vor ein paar Jahren in Zusammenarbeit mit dem Berufsstand untersucht, in welchem Umfang im Vorfeld der Abgabe eines Revisionsberichtes Fehler in Jahresrechnungen entdeckt und beseitigt werden. Das war erheblich. Aber die Herausforderung bleibt, vor allem weil die Gesellschaft in den letzten Jahren immer weniger unerwartete Abweichungen toleriert hat, und vielerorts von einer regelrechten «Versicherungsmentalität» gesprochen werden musste.

Die Rotation der Prüfungsgesellschaft ist ein wichtiges Thema für Unternehmen. In der EU gibt es einen Wechsel der Prüfgesellschaft alle zehn Jahre. In der Schweiz muss der leitende Revisor alle sieben Jahre ersetzt werden. Im grössten Kapitalmarkt, der USA, bestehen keinerlei solche Vorschriften. Was halten Sie von diesen unterschiedlichen Regelungen?

Zunächst einmal sind Unterschiede bei dieser Frage natürlich nicht optimal: viele schweizerische Unternehmen sind grenzüberschreitend tätig, und hieraus ergeben sich eine Reihe von Fragen. In materieller Hinsicht bin ich aber klar der Ansicht, dass die hiesige Lösung vermutlich zu bevorzugen ist. Die wissenschaftliche Evidenz in dieser Frage ist zwiespältig. Denn: echte Audit Failures – also die irrtümliche Billigung einer Jahresrechnung, obwohl wesentliche Fehler vorliegen – geschehen vor allem in zweierlei Situationen: erstens, kurz nach der Amtsübernahme einer neuen Revisionsgesellschaft. Und dann wieder, wenn dieselben Revisoren sehr, sehr lange im Amt gewesen sind. Der schweizerische Weg der regulatorischen Beschränkung auf die Rotation des leitenden Revisors und, im Einklang mit internationalen Richtlinien, weiterer Schlüsselpersonen auf dem Mandat, scheint mir hier ein ausgewogener Kompromiss zu sein. Einerseits bleibt das erworbene Wissen der Revisionsgesellschaft für die Prüfung erhalten, und andererseits bringen neue Personen eine gewisse Unabhängigkeit und neue Sichtweisen mit. Zudem lässt das Verständnis von «good governance» ja auch in der Schweiz eine Ausschreibung des Revisionsstellenmandats nach einer gewissen Zeit als angezeigt erscheinen. Ich hoffe daher, dass uns die hiesige Lösung noch möglichst lange erhalten bleibt.

Wird die Digitalisierung die Wirtschaftsprüfung komplett verändern?

In den Veränderungen stecken wir mittendrin. Entscheidend sind übrigens zumeist gar nicht die Revisionsgesellschaften selbst, sondern vor allem deren Kunden, die zunächst einmal die notwendigen Voraussetzungen für ein digitales Auditing schaffen müssen. Und auch die Regulatoren, die sich im Moment noch recht schwer damit tun, Artificial Intelligence und Professional Judgement miteinander zu verheiraten. In anderen Lebensbereichen, wie z.B. der Medizin, ist man da etwas schneller. Die Digitalisierung wird aber unzweifelhaft viele Veränderungen mit sich bringen. Wobei ich das eigentlich gar nicht als Bedrohung sehe, sondern als eine Bereicherung und ein Upgrade insbesondere für jüngere Mitarbeitende. Denn vieles, was in der Vergangenheit manuelle Arbeit war, wird wesentlich schneller und effizienter digital durchgeführt werden können. Das schafft Freiräume für fachlich anspruchsvollere, mehr unternehmerische Themen. Hierauf werden sich auch das Recruiting sowie die Aus- und Weiterbildung einstellen müssen. Im Master in Accounting and Corporate Finance der Universität St. Gallen bieten wir daher neuerdings – übrigens durch einen Lehrbeauftragten der KPMG – auch «Digital Auditing» an, und die Universität hat in den letzten Jahren sogar eine eigene Fakultät für Informatik geschaffen.