Phyllis Scholl ist in der Energiebranche zu Hause. Als Rechtsanwältin und Partnerin bei Baryon verfügt sie über breite Erfahrung in M&A-Transaktionen im Energiesektor. Zudem ist Phyllis Scholl Mitglied in Verwaltungsräten von sowohl kotierten als auch nicht-kotierten Unternehmen der Energiebranche und dazu Gemeindepräsidentin einer Zürcher Vorortsgemeinde.

Im Gespräch mit Reto Eberle äussert sich die Juristin zur aktuellen Energiekrise in Europa und wie wir die Energieproduktion und -wirtschaft in der Schweiz nachhaltig gestalten können.


Prof. Dr. Reto Eberle: Die jüngere Vergangenheit scheint von Krisen unterschiedlichster Natur geprägt zu sein, die sich zudem in immer höherer Kadenz folgen: Auf die Finanz-Krise folgten die Corona-Krise und nun der Krieg in der Ukraine. Sind Krisen immer auch Chancen, und sind aus Ihrer Sicht Erkenntnisse gezogen und entsprechende Veränderungen vorgenommen worden?

   

Phyllis Scholl: Krisen sind tatsächlich Chancen, auch wenn bei der Aussage immer etwas Zweckoptimismus mitschwingt. Krisen zeigen uns die Schwachpunkte in unserem System auf, und das ist die grosse Chance, die wir nutzen sollten. Die letzten Krisen, die wir erlebten, hatten Risikomanager und auch die Regierungen durchaus auf der Liste möglicher Szenarien, aber sie wurden alle mit geringen Eintretenswahrscheinlichkeiten bewertet. Vermutlich hat man deshalb die Vorbereitung auf diese Szenarien vernachlässigt.

Ein gutes Beispiel ist die drohende Energiemangellage in der Schweiz. Nur weil die Wahrscheinlichkeit als sehr tief eingestuft wurde, bedeutet das nicht, dass man sich nicht darauf hätte vorbereiten müssen, gerade weil eine Energiemangellage ein sehr hohes Schadenspotenzial hat. Die vergangenen Jahrzehnte ohne existenzielle Krisen für unsere Gesellschaft haben uns dazu verleitet, die Voraussicht zu vernachlässigen.

Als Erkenntnis daraus müssten wir uns heute überlegen, was mögliche zukünftige Krisenszenarien mit geringer Wahrscheinlichkeit, aber hohem Schadenspotenzial sind. Und gerade auch dafür Vorkehrungen treffen, um existenzielle Krisen möglichst zu vermeiden oder zumindest die Schäden zu mindern.


Die Energiebranche ist stark geprägt von der Politik. Mit der teilweisen Öffnung des Strommarktes 2008 hat man sich der Marktwirtschaft angenähert. Wie schätzen Sie die Wirkung der bisherigen (Teil-)Liberalisierung ein? Was sind die möglichen Auswirkungen einer weiteren Liberalisierung auch für kleinere Stromkonsumenten (mit unter 100 MWh)?

  

Die Teilliberalisierung hat zu einer Marktverzerrung geführt, in der wir jetzt feststecken. Die grossen Stromabnehmer sind nun mit hohen Marktpreisen konfrontiert, nachdem sie aber auch jahrelang von äusserst vorteilhaften Marktkonditionen profitieren konnten, während kleine Unternehmen und Privathaushalte im Verhältnis höhere Strompreise zu tragen hatten, nun aber auch von den hohen Marktpreisen deutlich weniger getroffen werden. Ich bin schon der Meinung, wir müssten uns für ein Konzept entscheiden und entweder alle oder niemanden in den freien Energiemarkt entlassen.

Der entscheidende Vorteil der Liberalisierung ist, dass der Markt und die Nachfrage Signale an die Produktion senden. Neben dem Preis hat nun auch die Versorgungssicherheit wieder an Bedeutung gewonnen. Dies hilft, auch die inländische Produktion stärker voranzubringen. Eine Rückkehr aller in die staatliche Grundversorgung wäre denkbar, aber keine gute Lösung, da so die Signale aus dem Markt fehlen würden und das Problem der verfügbaren Energie zusätzlich verschärft würde. Die jetzige Situation ist auf jeden Fall unbefriedigend. Die Haushalte und die Unternehmen möchten sich nicht ständig mit der Frage befassen müssen, wo der Strom herkommt und zu welchem Preis. Da geht man – etwa wie beim Wasser – einfach davon aus, dass er immer da ist und dies zu vernünftigen Preisen.

Risiken mit geringer Wahrscheinlichkeit, jedoch hohem Schadenspotential sollten mehr Aufmerksamkeit erhalten.


Ihre Tätigkeit als Verwaltungsrätin ist sicher auch geprägt vom langen Investitionshorizont, welcher für die Energiebranche typisch ist (zumindest im Bereich der Energieerzeugung). Wie geht man in der aktuell volatilen Marktsituation mit den damit verbundenen Planungsunsicherheiten um, gerade bei der Beurteilung von langfristigen Investitionsprojekten?

  

Bei Wasserkraftwerken zum Beispiel strebt man eine Konzession von 60 – 80 Jahren an. Das sind lange Zeithorizonte, in denen viel passieren kann. Man ging in der Vergangenheit davon aus, dass sich die Investition „on-the-long-run“ schon rentieren würde. Wobei auch immer die Frage im Raum stand, wie man mit sogenannten nicht-amortisierbaren Investitionen umgehen sollte. Hier hilft das Dreieck „Ökologie, Ökonomie und Versorgungssicherheit“ zur Einordnung. Der ökonomischen Komponente über die Preisentwicklung am Absatzmarkt wohnte dabei die grösste Unsicherheit inne.

Ein Ansatz, diese zu kontrollieren, wäre die Einführung von sogenannten gleitenden Marktprämien. Diese definieren eine Bandbreite des Strompreises. Fällt der Preis unter einen bestimmten Wert, würde die öffentliche Hand stützend eingreifen; geht der Preis über ein bestimmtes Niveau, müsste das Unternehmen einen Teil des Überschusses an den Staat abgeben.


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