VwGH zur Erwerberhaftung: Haftungsinanspruchnahme ohne vorgängige Erlassung eines Sachbescheides zulässig

Tax News 10/2022

Verfahrensrecht

Kletterer

Im konkreten Fall ging es um die Frage, ob die Haftungsinanspruchnahme eines Unternehmenskäufers für eine Umsatzsteuerschuld des Verkäufers ohne vorhergehende Erlassung eines Umsatzsteuerbescheids zulässig war (Erwerberhaftung, § 14 BAO). Nach der Rsp des VwGH setzt die Geltendmachung einer abgabenrechtlichen Haftung zwar das Bestehen einer Abgabenschuld voraus, nicht jedoch die bescheidmäßige Geltendmachung dieser Schuld dem Abgabenschuldner gegenüber. Ein Rechtsschutzdefizit besteht in solchen Fällen nicht, weil der Haftungspflichtige im Haftungsverfahren Einwendungen gegen den nicht festgesetzten Abgabenanspruch erheben kann; vorausgesetzt das Finanzamt hat dem Haftungspflichtigen die konkrete Abgabenschuld dem Grunde und der Höhe zur Kenntnis gebracht (VwGH 05.04.2022, Ra 2020/13/0035).

1. Sachverhalt: Haftungsinanspruchnahme ohne vorangegangenen Abgabenbescheid

Die Käuferin eines Unternehmens wurde vom Finanzamt für eine von der Verkäuferin nicht entrichtete Umsatzsteuer zur Haftung herangezogen (Erwerberhaftung nach § 14 BAO). Die bescheidmäßige Abgabenfestsetzung gegenüber der Verkäuferin war unterblieben, weil der Geschäftsführer der Verkäuferin vom Finanzamt nicht mehr aufgefunden werden konnte. Im Haftungsbescheid begründete das Finanzamt ausführlich, worauf die Haftung gründete und welcher Abgabenanspruch dieser zugrunde lag (Erwerberhaftung für Umsatzsteuer).

Gegen den Haftungsbescheid erhob die Käuferin Beschwerde, weil sie im Zeitpunkt der Übereignung weder wusste noch hätte wissen können, dass die Umsatzsteuer aus dem Unternehmensverkauf von der Verkäuferin nicht entrichtet werde. Zudem sei die Haftungsinanspruchnahme ermessenswidrig erfolgt.

2. BFG: Sachbescheid notwendig für Haftungsinanspruchnahme

Nach Ansicht des Bundesfinanzgerichtes (BFG) sei es der Käuferin – mangels bescheidmäßiger Festsetzung der Umsatzsteuer gegenüber der Verkäuferin – nicht möglich gewesen gegen den Abgabenbescheid mit Beschwerde vorzugehen. Sofern die Möglichkeit der Erlassung eines Abgabenbescheides an den Abgabenschuldner bestehe, habe das Finanzamt einen solchen zu erlassen und diesen der Haftungspflichtigen im Haftungsverfahren bekanntzugeben. Der Abgabenbescheid bilde die unabdingbare Basis der Haftungsinanspruchnahme.

Aufgrund der möglichen, aber unterlassenen bescheidmäßigen Abgabenfestsetzung gegenüber der Verkäuferin und Bekanntgabe an die Käuferin konnte diese keine Kenntnis vom Abgabenanspruch erlangen. Der Haftungsbescheid wurde daher vom BFG wegen Rechtswidrigkeit ersatzlos aufgehoben. Gegen die Entscheidung des BFG erhob das Finanzamt Revision.

3. VwGH: Erwerberhaftung ohne Abgabenbescheid

Entgegen der Ansicht des BFG können abgabenrechtliche Haftungen unabhängig von der Erlassung eines Abgabenbescheides gegenüber dem Abgabenschuldner geltend gemacht werden. Die Geltendmachung der Haftung setzt zwar das Bestehen einer Abgabenschuld voraus, nicht jedoch die Geltendmachung dieser Schuld gegenüber dem Abgabenschuldner. Ein Rechtsschutzdefizit besteht in solchen Fällen nicht, weil der Haftungspflichtige im Haftungsverfahren Einwendungen gegen den nicht festgesetzten Abgabenanspruch erheben kann. Die Frage, ob ein Abgabenanspruch überhaupt vorliegt, ist eine Vorfrage iSd § 116 BAO, über die das im Haftungsverfahren zuständige Organ zu entscheiden hat.

Da es nach Auffassung des VwGH auf die Kenntnis des zugrunde liegenden Abgabenanspruches seitens des Haftungspflichtigen ankommt, war das Erkenntnis des BFG aufzuheben. Denn der Haftungspflichtige hatte sowohl Kenntnis vom konkreten Abgabenanspruch (Umsatzsteuer des Verkäufers) als auch vom Grund der Haftungsinanspruchnahme (Erwerberhaftung nach § 14 iVm § 8 BAO mangels Auffindbarkeit des Geschäftsführers der Verkäuferin).

4. Praxishinweis zum Rechtsschutz

Für die Geltendmachung von abgabenrechtlichen Haftungen ist es unerheblich, ob das Finanzamt die Abgaben gegenüber dem Abgabenschuldner bescheidmäßig festgesetzt hat. Dies leitet der VwGH aus der fehlenden Bindung zwischen Haftungsbescheid und Abgabenbescheid ab. Um jedoch einen wirksamen Rechtsschutz zu gewährleisten, muss das Finanzamt dem Haftungspflichtigen Kenntnis über Grund und Höhe des Abgabenanspruches verschaffen. Somit können die Voraussetzungen für die Haftungsinanspruchnahme bei fehlendem Abgabenbescheid wie folgt zusammengefasst werden:

  • Bestehen einer Abgabenschuld,
  • Kenntniserlangung des Haftungsverpflichteten über Grund und Höhe der Abgabenschuld, damit dieser Einwendungen im Haftungsverfahren erheben kann, sowie
  • die Begründung der Haftungsinanspruchnahme durch das Finanzamt.

Siehe in diesem Zusammenhang auch den Beitrag „Haftung eines Vereinsobmanns für Umsatzsteuerschulden“.

Zur abgabenrechtlichen Haftung nach § 11 BAO siehe Tax News 07-09/2022 – BFG zur Haftung gemäß § 11 BAO: Beschwerde gegen Abgabenbescheide nicht zulässig.

Bei Haftungsinanspruchnahme von Vertretern gemäß § 9 BAO muss bei Ermessensübung eine lange zurückliegende Entstehung der Abgabenschuld zwingend berücksichtigt werden. Siehe dazu Tax News 10-11/2021 – VwGH zur Vertreterhaftung: bei Ermessensübung ist der Zeitablauf seit Entstehung der Steuerschuld zu berücksichtigen

Weitere Inhalte