VwGH zur Vertreterhaftung: bei Ermessensübung ist der Zeitablauf seit Entstehung der Steuerschuld zu berücksichtigen

Tax News 10-11/2021

Verfahrensrecht

Kletterer

Nach der ständigen Rsp des VwGH muss bei Haftungsinanspruchnahme von Vertretern gemäß § 9 BAO bei der Ermessensübung eine lange zurückliegende Entstehung der Abgabenschuld zwingend berücksichtigt werden. Im konkreten Fall verkannte das BFG die geltende Rechtslage, weil es bei der Beurteilung der Dauer des verstrichenen Zeitraumes auf den Zeitpunkt der Entstehung der Abgabenschuld abstellen hätte müssen und nicht auf den Zeitpunkt der Rechtskraft des Bescheides der Primärschuldnerin.

1. Sachverhalt – Haftungsinanspruchnahme der Geschäftsführerin einer GmbH

Im Jahr 2015 wurde das Rechtsmittelverfahren einer GmbH betreffend Umsatzsteuer für die Jahre 2003 bis 2006 mit einem Erkenntnis des BFG final abgeschlossen. Die Erstbescheide für diese Jahre ergingen bereits im Juni 2007. Im Dezember 2015 wurde die Geschäftsführerin der GmbH für die Abgabenschulden der GmbH zur Haftung herangezogen. Die Geschäftsführerin brachte Beschwerde gegen den Haftungsbescheid ein und begründete dies u.a. damit, dass das Finanzamt bei der Haftungsinanspruchnahme das Ermessen nicht korrekt ausgeübt hätte. Denn der lange Zeitraum zwischen der Ausstellung der Erstbescheide (2007) und der Haftungsinanspruchnahme (2015) wurde bei der Ermessensübung nicht berücksichtigt.

2. BFG: Zeitpunkt maßgeblich, zu dem die haftungsgegenständlichen Abgabenschulden feststehen

Das BFG wies die Beschwerde gegen den Haftungsbescheid mit der Begründung ab, dass nicht auf den Zeitpunkt der Erlassung der Erstbescheide abzustellen sei, sondern auf den Eintritt deren Rechtskraft: Nach Ansicht des BFG sei auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BFG über die tatsächliche Höhe der Umsatzsteuer abzustellen, da erst in diesem Zeitpunkt die haftungsgegenständlichen Abgabenschulden dem Grunde und der Höhe nach feststanden.

3. VwGH v. 19.5.2021 - Ra 2019/13/0046: Eintritt der Rechtskraft nicht entscheidend 

Gemäß § 9 BAO haften Vertreter juristischer Personen iSd § 80 BAO für Abgaben der Vertretenen soweit Abgaben aufgrund schuldhafter Verletzung ihrer Pflichten nicht eingebracht werden können. Die Haftungsinanspruchnahme liegt im Ermessen der Abgabenbehörde, wobei bei der Ermessensübung nach ständiger Rechtsprechung des VwGH ua folgende Ermessenskriterien zu berücksichtigen sind: persönliche und wirtschaftliche Verhältnisse des Haftungspflichtigen, behördliches (Mit-)Verschulden an der Erschwerung der Einbringung, Uneinbringlichkeit beim Haftungspflichtigen selbst.

Nach der ständigen Rechtsprechung des VwGH darf bei der Ermessensübung zudem nicht außer Betracht gelassen werden, wenn seit der Entstehung der Abgabenschuld oder seit dem Hervorkommen der Uneinbringlichkeit beim Primärschuldner eine lange Zeit verstrichen ist. Nach Ansicht des VwGH berücksichtigte das BFG im konkreten Fall nicht, dass ein besonders langer Zeitraum zwischen dem Entstehen der Abgabenschuld und der Haftungsinanspruchnahme bestanden hatte. Das BFG ging unrichtigerweise davon aus, dass es für die Beurteilung der Dauer der verstrichenen Zeit auf die Rechtskraft des Bescheides der GmbH ankomme. Daher hob der VwGH das Erkenntnis des BFG auf.

4. Ergebnis

Die Haftungsinanspruchnahme von Vertretern gemäß § 9 BAO liegt im Ermessen der Abgabenbehörde. Bei der Ermessensübung ist von der Abgabenbehörde zu berücksichtigen, wenn zwischen der Entstehung der Abgabenschuld und der Haftungsinanspruchnahme ein langer Zeitraum verstrichen ist. Abzustellen ist dabei auf den Zeitpunkt der Entstehung der Abgabenschuld oder das Hervorkommen der Uneinbringlichkeit beim Primärschuldner; nicht entscheidend ist der Zeitpunkt des Eintrittes der Rechtskraft des Abgabenbescheides des Primärschuldners.

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