Verfassungsbeschwerde gegen Solidaritätszuschlag 2020/2021 erfolglos
Das Bundesverfassungsgericht hat mit Urteil vom 26.03.2025 eine Verfassungsbeschwerde gegen das Solidaritätszuschlaggesetz 1995 (SolZG 1995) in der Fassung des Gesetzes zur Rückführung des Solidaritätszuschlags 1995 vom 10.12.2019 zurückgewiesen (BVerfG 2 BvR 1505/20).
Die gegen die unveränderte Fortführung der Solidaritätszuschlagspflicht im Jahr 2020 und gegen den nur teilweisen Abbau des Solidaritätszuschlags ab 2021 gerichtete Verfassungsbeschwerde blieb erfolglos:
- Die Ergänzungsabgabe nach Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG, als welche der Solidaritätszuschlag qualifiziert, setze einen finanziellen Mehrbedarf des Bundes voraus, der nach der vom Bundesverfassungsgericht nur beschränkt überprüfbaren Einschätzung des Gesetzgebers durch die Erfüllung einer vom Bund angeführten bestimmten Aufgabe voraussichtlich entstehen wird und zu dessen Deckung die Erhebung der Ergänzungsabgabe notwendig erscheint (aufgabenbezogener Mehrbedarf). Dieser Mehrbedarf sei durch den Gesetzgeber allerdings nur in seinen Grundzügen zu umreißen. Im Fall des Solidaritätszuschlags sei dies der durch die Wiedervereinigung bedingte finanzielle Mehrbedarf des Bundes.
- Ein evidenter Wegfall des einer Ergänzungsabgabe zugrunde gelegten finanziellen Mehrbedarfs begründe eine Verpflichtung des Gesetzgebers, die Abgabe aufzuheben oder die Voraussetzungen für ihre Erhebung anzupassen. Insoweit treffe den Gesetzgeber – bei einer länger andauernden Erhebung einer Ergänzungsabgabe – eine sog. Beobachtungsobliegenheit.
- Ein evidenter Wegfall des auf den Beitritt der damals neuen Länder zurückzuführenden Mehrbedarfs des Bundes könne jedoch auch heute (noch) nicht festgestellt werden. Eine Verpflichtung des Gesetzgebers zur Aufhebung des Solidaritätszuschlags ab dem Veranlagungszeitraum 2020 bestand und bestehe folglich nicht.
- Bei einer an die Einkommensteuer angelehnten Ergänzungsabgabe könne die Steuererhebung mit einer sozialen Staffelung versehen werden, um dadurch der Verteilung der zusätzlichen Steuerlast nach der Leistungsfähigkeit in besonderem Maße Rechnung zu tragen.
Hintergrund und Sachverhalt:
Aufgrund des SolZG 1995 erhebt der Bund seit dem Jahr 1995 ununterbrochen einen Solidaritätszuschlag als Ergänzungsabgabe zur Einkommensteuer und Körperschaftsteuer (§ 1 Abs. 1 SolZG 1995). Mit dem Gesetz zur Rückführung des Solidaritätszuschlags 1995 vom 10.12.2019 wurde für das Jahr 2020 der Zuschlag unverändert weitererhoben und ab dem Jahr 2021 die in § 3 SolZG 1995 vorgesehene Freigrenze angehoben, wodurch rund 90 Prozent der Zahler der veranlagten Einkommensteuer und der Lohnsteuer nicht mehr mit dem Solidaritätszuschlag belastet werden sollten.
Die Beschwerdeführer sind der Ansicht, dass die Weitererhebung des ursprünglich mit den Kosten der Wiedervereinigung begründeten Solidaritätszuschlags mit Auslaufen des sog. Solidarpakts II zum 31.12.2019 verfassungswidrig geworden sei. Daneben rügen sie eine durch das Gesetz zur Rückführung des Solidaritätszuschlags 1995 bewirkte Ungleichbehandlung von verschiedenen Einkommensbeziehern (Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz, Art. 3 Abs. 1 GG) und eine Verletzung der Eigentumsgarantie (Art. 14 Abs. 1 GG).
Wesentliche Erwägungen des BVerfG:
Die Verfassungsbeschwerde ist laut BVerfG zulässig, aber unbegründet: Das SolZG 1995 ist als sog. Inhalts- und Schrankenbestimmung der Eigentumsgarantie gerechtfertigt.
1. Zum Zeitpunkt des Erlasses des Gesetzes zur Rückführung des Solidaritätszuschlags 1995 im Dezember 2019 kam dem Bundesgesetzgeber nach den finanzverfassungsrechtlichen Bestimmungen die Gesetzgebungskompetenz für die (modifizierte) Fortführung des Solidaritätszuschlags ab dem Jahr 2020 zu. Die finanzverfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die Erhebung einer Ergänzungsabgabe seien auch seither (noch) nicht evident entfallen.
a) Hinsichtlich des vorliegend relevanten Steuertypus der Ergänzungsabgabe sei davon auszugehen, dass ein evidenter Wegfall der für ihre Erhebung erforderlichen Voraussetzungen eine Verpflichtung des Gesetzgebers begründe, die Abgabe aufzuheben oder ihre Voraussetzungen anzupassen.
Bei der Frage des Fortbestands des finanziellen Mehrbedarfs des Bundes bestehe zwar ein weiter Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. Sehe er aber keinen Anpassungsmechanismus für den Fall einer (wesentlichen) Änderung der seiner Entscheidung zugrunde gelegten tatsächlichen Verhältnisse vor, überprüfe das Bundesverfassungsgericht, ob die auf dieser Grundlage getroffene Regelung auch unter veränderten Rahmenbedingungen noch von der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers getragen werde und daher im Ergebnis weiter zu rechtfertigen sei. Dies sei dann nicht mehr der Fall, wenn sich eine Regelung unter veränderten tatsächlichen Bedingungen als evident nicht mehr realitätsgerecht erweise.
Insoweit treffe den Bundesgesetzgeber − bei einer länger andauernden Erhebung einer Ergänzungsabgabe − eine Beobachtungsobliegenheit. Er sei gehalten, in solchen Fällen seine ursprüngliche Entscheidung zur Einführung einer Ergänzungsabgabe in gewissen Abständen daraufhin zu überprüfen, ob die seinerzeit angenommene Entwicklung des finanziellen Bedarfs noch der Realität entspricht.
b) Es komme damit maßgeblich darauf an, welche Merkmale eine Ergänzungsabgabe i.S.d. Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG prägen und ob diese zum Zeitpunkt des Erlasses des Steuergesetzes vorlagen und auch heute noch nicht evident entfallen sind.
Der Ergänzungsabgabe seien – über eine gewisse Akzessorietät zur Einkommen- und Körperschaftsteuer hinaus –angesichts des ihr vom Gesetzgeber verliehenen Charakters, ihrer Funktion innerhalb der bundesstaatlichen Finanzverfassungsordnung sowie der finanzverfassungsrechtlichen Systematik weitere Grenzen gezogen:
aa) Die Ergänzungsabgabe setze einen finanziellen Mehrbedarf des Bundes voraus, der nach Einschätzung des Gesetzgebers durch die Erfüllung einer vom Bund angeführten bestimmten Aufgabe voraussichtlich entstehen wird und zu dessen Deckung die Erhebung der Ergänzungsabgabe notwendig erscheine.
Ausweislich der Gesetzesbegründung sei die Ergänzungsabgabe geschaffen worden, um „in begrenztem Rahmen“ eine möglichst reibungslose und flexible Deckung eines finanziellen Mehrbedarfs des Bundes zu gewährleisten, ohne die sachgerechte und stabile Verteilung des Steueraufkommens zwischen Bund und Ländern infrage zu stellen.
Damit die Ergänzungsabgabe den ihr unverändert zugewiesenen Zweck erfüllen könne, sei es notwendig, aber auch hinreichend, dass sich der finanzielle Mehrbedarf auf eine bestimmte Aufgabe zurückführen lasse. Angesichts der grundsätzlich strikten Trennung zwischen steuerlicher Staatsfinanzierung und haushaltsrechtlicher Verwendungsentscheidung müsse der Gesetzgeber den aufgabenbezogenen Mehrbedarf allerdings nur in seinen Grundzügen umreißen.
Die Aufgabenbezogenheit der Ergänzungsabgabe habe zugleich eine zeitliche Komponente. Für die Berechtigung ihrer Weitererhebung komme es nicht auf den Ablauf ausschließlich zeitlich definierter Fristen wie etwa diejenige eines „Generationenabstands“ an, sondern allein darauf, ob der aufgabenbezogene Mehrbedarf evident weggefallen sei.
bb) Weiter dürfe die Ergänzungsabgabe das finanzielle Ausgleichssystem des Grundgesetzes nicht zu Lasten der Länder in einer Art und Weise antasten, die Steuerarten oder Steuern aushöhlen würden, deren Aufkommen allein den Ländern zufließt oder die Bund und Ländern gemeinsam zustehen (sogenanntes „Aushöhlungsverbot“).
cc) Dagegen sei die Ergänzungsabgabe nicht als subsidiäres Finanzierungsinstrument ausgestaltet worden. Der Bundesgesetzgeber sei daher aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht gezwungen, von der Erhebung einer Ergänzungsabgabe abzusehen, wenn auch eine Erhöhung der Einkommen- oder Körperschaftsteuer bzw. eine Anhebung der dem Bund zustehenden Verbrauchsteuern in Betracht käme, dies aber aus politischen Gründen nicht opportun oder durchsetzbar erscheine.
dd) Eine Ergänzungsabgabe i.S.d. Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG sei auch nicht von vornherein zu befristen. Gegen eine Befristung spreche insbesondere die Funktion, die die Ergänzungsabgabe als flexible Alternative zur Anpassung der Einkommen- oder Körperschaftsteuer als gemeinschaftliche Steuern oder zur Erhöhung der allein dem Bund zufließenden Verbrauchsteuern erfüllen solle.
ee) Schließlich beschränke Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG den Bundesgesetzgeber auch nicht darauf, eine Ergänzungsabgabe nur während einer „Notlage“ oder „Ausnahmelage“, nicht aber auch in einer „finanzverfassungsrechtlichen Normallage“ zu erheben.
c) In Anbetracht der beschriebenen Maßstäbe habe der Bund im Zeitpunkt des Erlasses des Gesetzes zur Rückführung des Solidaritätszuschlags 1995 am 10.12.2019 die dafür erforderliche Gesetzgebungskompetenz besessen. Er sei darüber hinaus verfassungsrechtlich auch nicht verpflichtet, den Solidaritätszuschlag wegen eines späteren evidenten Wegfalls des angeführten aufgabenbezogenen Mehrbedarfs aufzuheben.
aa) Zunächst werde durch die mit dem Gesetz zur Rückführung des Solidaritätszuschlags 1995 ab dem Jahr 2021 erheblich ausgeweitete Staffelung des Solidaritätszuschlags die eine Ergänzungsabgabe prägende Akzessorietät zur Einkommen- und Körperschaftsteuer nicht infrage gestellt und damit der Typus dieser Steuer nicht schon deshalb verfehlt.
bb) Der wiedervereinigungsbedingte finanzielle Mehrbedarf des Bundes sei bei Erlass des Gesetzes zur Rückführung des Solidaritätszuschlags 1995 mit Wirkung zum 01.01.2020 noch nicht in evidenter Weise entfallen gewesen. Auch heute könne ein offensichtlicher Wegfall des auf den Beitritt der damals neuen Länder zum Bundesgebiet zurückzuführenden – wenn auch verringerten – Mehrbedarfs des Bundes (noch) nicht festgestellt werden. Der Bund verzeichne weiterhin einen wiedervereinigungsbedingten zusätzlichen Finanzierungsbedarf. Diese Einschätzung halte sich im Rahmen des dem Bundesgesetzgeber bei der Bestimmung einer Aufgabe und des durch sie bedingten finanziellen Mehrbedarfs zukommenden Spielraums.
Ein im Verfahren vorgelegtes Gutachten komme demnach zu dem Ergebnis, dass selbst 30 Jahre nach der Wiedervereinigung trotz positiver Entwicklungen noch strukturelle Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland verbleiben und es auch noch bis 2030 in bestimmten Bereichen wiedervereinigungsbedingte Belastungen des Bundeshaushalts gebe. Dies zeige, dass von einem evidenten Entfallen des wiedervereinigungsbedingten Mehrbedarfs des Bundes noch nicht ausgegangen werden könne.
Das Auslaufen des sogenannten Solidarpakts II mit Ablauf des Jahres 2019 sei unerheblich, da dadurch lediglich die bis dahin erfolgte konkrete Ausgestaltung der Unterstützung der neuen Länder durch den Bund zu ihrem Ende gekommen sei.
2. Das SolZG 1995 in der maßgeblichen Fassung genüge darüber hinaus auch den materiellen Anforderungen an eine Inhalts- und Schrankenbestimmung.
a) Es sei weder vorgetragen noch erkennbar, dass mit dem Ansatz des Solidaritätszuschlags i.H.v. 5,5 % der Einkommen- beziehungsweise Körperschaftsteuer eine übermäßige, mit einer verfassungsrechtlichen Obergrenze zumutbarer Besteuerung nicht mehr vereinbare Steuerbelastung verbunden wäre und damit ein Verstoß gegen den allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vorläge. Auch stehe der Zuschlagsatz in Höhe von 5,5 % derzeit noch nicht evident außer Verhältnis zu der Höhe des aufgabenbezogenen Mehrbedarfs, der mit dem Solidaritätszuschlag gedeckt werden soll.
b) Das SolZG 1995 verletze auch nicht Art. 3 Abs. 1 GG. Im Hinblick auf die soziale Staffelung der Ergänzungsabgabe könne offenbleiben, ob eine grundrechtsrelevante Ungleichbehandlung darin liegen könnte, dass sich der Gesetzgeber (durch eine Gleitzone abgemilderter) Freigrenzen und keiner alle Steuerpflichtigen entlastender Freibeträge bedient beziehungsweise sich nicht dafür entschieden hat, alle Steuerpflichtigen gleichmäßig zu belasten. Eine solche Ungleichbehandlung wäre jedenfalls gerechtfertigt.
Soweit die Freigrenzen nach § 3 Abs. 3 Satz 1 SolZG 1995 grundsätzlich nicht auf die im Wege des Kapitalertragsteuerabzugs erhobene, sondern nur auf die veranlagte Einkommensteuer und Lohnsteuer Anwendung finden, handle es sich nicht um im Wesentlichen vergleichbare Sachverhalte. Dies gelte ebenso, soweit die ab dem Jahr 2021 geltenden Freigrenzen nur auf Einkommensteuer- und nicht auch auf Körperschaftsteuersubjekte Anwendung finden. Insoweit lägen ebenfalls keine im Wesentlichen vergleichbare Sachverhalte vor.
Hinweis: Eine Richterin hat sich der Senatsmehrheit im Ergebnis angeschlossen, jedoch hinsichtlich der Urteilsbegründung betreffend die Maßstabsbildung und den damit konstruierten Kontrollanspruch des BVerfG darüber, ob vom Gesetzgeber angeführte Finanzbedarfe fortbestehen, ein Sondervotum verfasst.
Fundstelle: BVerfG-Urteil v. 26.03.2025
News-Kategorie: Rechtsprechung
Veröffentlichungsdatum: 26.03.2025
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