VwGH zur Wiederaufnahme: Rund EUR 700 als absolute Geringfügigkeitsgrenze bei Ermessensübung

Tax News 01/2022

Verfahrensrecht

Kletterer

Laut VwGH 30.06.2021, Ra 2019/15/0125 beträgt die absolute Geringfügigkeitsgrenze bei der Ermessensübung im Rahmen einer Wiederaufnahme ca EUR 746. Wird dieser Betrag überschritten, ist – bei Erfüllung der übrigen Anwendungsvoraussetzungen – im Ermessen der Abgabenbehörde eine Wiederaufnahme zu verfügen und ein neuer Sachbescheid zu erlassen.

Der VwGH erkannte am 30.06.2021, Ra 2019/15/0125 zur Frage, ob eine Wiederaufnahme des Verfahrens trotz einer relativ niedrigen Steuernachforderung zulässig ist. IdZ nannte er den Betrag von ca EUR 746, der eine Wiederaufnahme im Ermessen jedenfalls rechtfertigt.

1. Verfahrensablauf Umsatzsteuerveranlagung: Unrichtige Fahrzeugeinzelbesteuerung und diverse Vorsteuerkürzungen, Wiederaufnahme

  • Erwerb PKW ohne österr. USt: Ein Steuerpflichtiger bestätigt seinem österreichischen Fahrzeughändler im März 2007, dass er für einen neuen PKW im Rahmen der Fahrzeugeinzelbesteuerung in Deutschland die deutsche Umsatzsteuer abführen wird. Der Händler stellt seine Rechnung daher ohne österreichische Umsatzsteuer aus. 
  • Bescheid Fahrzeugeinzelbesteuerung, Aufhebung: Eine Nachschau für den Zeitraum Jänner – November 2007 würdigt den dauernden Standort dieses PKW dagegen in Österreich und schreibt die österreichische Umsatzsteuer im Wege der Fahrzeugeinzelbesteuerung bescheidmäßig vor. Im Beschwerdeerfahren hebt das Finanzamt diesen Bescheid über die Fahrzeugeinzelbesteuerung wegen Unrichtigkeit auf. 
  • Diverse Vorsteuerberichtigungen: Im Februar 2012 fordert das Finanzamt vom Steuerpflichtigen Belege an, um die Abzugsfähigkeit geltend gemachter Vorsteuern des Kalenderjahres 2007 zusätzlich zur vorherigen Fahrzeugeinzelbesteuerung zu überprüfen. Aufgrund vorzunehmender Vorsteuerkorrekturen iHv EUR 746 nimmt das Finanzamt das Verfahren zur Umsatzsteuerveranlagung 2007 wieder auf. Im neuen USt-Bescheid 2007 wird nicht nur die Vorsteuer gekürzt, sondern es wird auch die Umsatzsteuer für den PKW neuerlich vorgeschrieben.
  • Dagegen beschwert sich der Steuerpflichtige insb mit der Begründung, dass das Finanzamt bei der Wiederaufnahme des USt-Verfahrens 2007 sein Ermessen überschritten hat. Aufgrund der Geringfügigkeit der steuerlichen Auswirkungen wäre die Wiederaufnahme von Amts wegen zu unterlassen gewesen. Da das BFG die Rechtansicht des Beschwerdeführers nicht teilt, erhebt dieser eine außerordentliche Revision.

2. VwGH zur Zulässigkeit der Wiederaufnahme 

Die Wiederaufnahme des Verfahrens gem § 303 BAO beseitigt den früheren Bescheid zur Gänze. Wenn aufgrund irgendeiner neu hervorgekommenen Tatsache die Wiederaufnahme zulässig ist, können auch andere Grundlagen und Elemente des Bescheides geändert werden, selbst wenn diesbezüglich keine neuen Tatsachen oder Beweismittel vorliegen.

Zwischenergebnis: Wenn aufgrund neu hervorgekommener Tatsachen im Rahmen einer Wiederaufnahme eine Korrektur der geltend gemachten Vorsteuern des Jahres 2007 vorgenommen werden kann, ist die gleichzeitige Korrektur einer unrichtigen Fahrzeugbesteuerung im Rahmen dieser Wiederaufnahme ebenso zulässig. Dies gilt unabhängig davon, ob hinsichtlich der Fahrzeugbesteuerung neue Tatsachen hervorgekommen sind.

Besteht ein Wiederaufnahmegrund, hat die Behörde im Ermessen zu entscheiden, ob diese zu verfügen ist. Dass hinsichtlich der vorgenommenen Vorsteuerkorrekturen derartige Gründe bestehen, bestreitet der Steuerpflichtige nicht. Strittig ist jedoch, ob die Behörde ihr Ermessen gesetzeskonform ausgeübt hat. Dies ist nach Ansicht des VwGH zu bejahen, da die steuerlichen Auswirkungen der Wiederaufnahmegründe für die Vorsteuerkorrektur EUR 746 betragen. 

Ergebnis: Auch wenn die Geringfügigkeit ausschließlich auf Basis der steuerlichen Auswirkungen der konkreten Wiederaufnahmegründe und nicht auf Basis der steuerlichen Gesamtauswirkungen aus Änderungen infolge anderer rechtlicher Beurteilungen im Sachbescheid zu beurteilen ist, ist ein Vorsteuerkorrekturbetrag iHv EUR 746 nicht mehr (absolut) geringfügig. Die Ermessensausübung zur Wiederaufnahme des USt-Bescheides 2007 entspricht dem Gesetz, die Revision ist unbegründet.

3. Auf den Punkt gebracht

Falls ein Wiederaufnahmegrund besteht, ist die Wiederaufnahme im Ermessen amtswegig zu verfügen, wenn die steuerliche Auswirkung EUR 746 übersteigt. Ein Betrag von mindestens ca EUR 700 ist nicht mehr geringfügig und daher nach erfolgter Wiederaufnahme ein neuer Sachbescheid auszufertigen. Nach einer Entscheidungsbesprechung des für den konkreten Fall zuständigen Vorsitzenden des VwGH, Senatspräsident Univ.-Prof. Dr. Nikolaus Zorn, ist in diesem Fall eine relative Geringfügigkeit des Nachzahlungsbetrages nicht mehr zu prüfen (vgl RdW 2021, 736).

Diese Betragsgrenze ist auch dann zu beachten, wenn ein Steuerzahler außerhalb der einmonatigen Beschwerdefrist vergessen hat, Betriebsausgaben oder Werbungkosten geltend zu machen: Ist ein Antrag gem § 299 BAO oder ein Antrag auf amtswegige Wiederaufnahme zulässig und beträgt die Steuerwirkung mindestens EUR 700, hat das Finanzamt diesem Antrag im Ermessen grundsätzlich stattzugeben. Wird diese Grenze nicht überschritten, wird die relative Geringfügigkeit relevant. Dies ist die Steuerfolge im Vergleich zum alten Bescheid oder zum Ergebnis des potenziellen neuen Bescheids.  

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