Hemmung der Verjährungsfrist bei Gerichtsverfahren: zeitlich unbegrenzt?

Tax News 10/2023

Tax News 10/2023

  • 1000

Der EuGH hat sich in seinem Urteil vom 13. Juli 2023, Napfény-Toll, C-615/21, mit der Frage beschäftigt, ob die Hemmung der Verjährung bei einem anhängigen Gerichtsverfahren zeitlich begrenzt ist. Solange die Grundsätze der Rechtssicherheit, der Effektivität sowie das Grundrecht auf eine gute Verwaltung beachtet werden, widerspricht eine zeitlich unbegrenzte Hemmung der Verjährung nicht dem Unionsrecht.

Napfény-Toll machte im Juni 2010 sowie im November 2010 bis September 2011 Vorsteuern geltend, die sie vom Betrag der geschuldeten Umsatzsteuer abzog. Im Dezember 2011 leitete die Steuerbehörde eine Steuerprüfung ein und versagte teilweise den Vorsteuerabzug, weil einige Rechnungen keinem tatsächlichen wirtschaftlichen Vorgang entsprochen hätten und andere Rechnungen auf einem Steuerbetrug, von dem die Klägerin Kenntnis gehabt habe, beruht hätten.

Napfény-Toll beschwerte sich gegen diese Entscheidung. Im Zuge der Beschwerde wurden insgesamt drei zweitinstanzliche Entscheidungen getroffen, die wiederholt vom Gericht aufgehoben wurden. Die dritte zweitinstanzliche Entscheidung vom 6. April 2020 bekämpfte Napfény-Toll mit dem Argument der Verjährung: das Recht der Steuerbehörde, die abzuführenden Mehrwertsteuerbeträge festzusetzen verjähre fünf Jahre nach der Abgabe- oder der Entrichtungsverpflichtung durch den Steuerpflichtigen.

Das ungarische Gericht beschloss, das Verfahren auszusetzen und an den EuGH die Frage vorzulegen, ob die Regelung der (unbegrenzten) Hemmung der Verjährung während eines offenen Verfahrens dem Grundsatz der Rechtssicherheit oder der Effektivität widerspricht.

Der EuGH führte hierzu aus, dass das EU-Recht keine Regelugen bzgl. der Verjährung oder Hemmung vorsieht. Die Verjährungsvorschriften wie auch die Modalitäten der Hemmung und/oder Unterbrechung dieser Verjährung müssen im nationalen Recht der Mitgliedstaaten normiert werden. Diese nationalen Regelungen müssen jedoch unter Beachtung des Unionsrechts ausgeübt werden: die Festlegung der Fristen muss angemessen sein um die Steuerbehörde wie auch den Steuerpflichtigen zu schützen.

In der Folge prüfte der EuGH, ob die unbeschränkte Hemmung der Verjährung gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit und/oder gegen den Grundsatz der Effektivität verstoße.

Die unbeschränkte Hemmung der Verjährungsfrist widerspricht nicht dem Grundsatz der Rechtssicherheit, weil im gegebenen Fall die Steuerbehörde die Überprüfung der Steuererklärung vor Ablauf der hierfür vorgesehenen Verjährungsfrist dem Steuerpflichtigen mitgeteilt hat. Damit habe die Steuerbehörde die Akzeptanz der eingereichten Steuererklärung (und geltend gemachten Vorsteuern) implizit zurückgenommen. Die nationalen Vorschriften zur Hemmung der Verjährungsfrist müssen grundsätzlich so ausgestaltet sein, dass ein Gleichgewicht zwischen den Anforderungen des Grundsatzes der Rechtssicherheit und einer tatsächlichen und wirksamen Umsetzung der MwStSyst-RL ermöglicht wird. Nationale Regelungen und Verwaltungspraxen dürfen nicht die Situation von Steuerpflichtigen auf unbestimmte Zeit in Frage stellen. Dennoch verhindert die Hemmung, dass die tatsächliche und wirksame Umsetzung der MwStSyst-RL durch die Einlegung von Verschleppungsklagen gefährdet wird.

Zum Grundsatz der Effektivität führte der EuGH aus, dass die Hemmung der Frist den Steuerpflichtigen keineswegs daran hindert, seine in der MwStSyst-RL normierten Rechte geltend zu machen. Die Fristhemmung soll ihm vielmehr ermöglichen, die Rechte, die ihm nach dem Unionsrecht zustehen, erfolgreich geltend zu machen, während die Rechte der Steuerbehörde gewahrt bleiben. Der Grundsatz der Effektivität stehe demnach einer unbeschränkten Hemmung der Verjährung nicht entgegen.

Zusätzlich zu den genannten Grundsätzen ist jedoch Art. 47 Abs. 2 GRC zu prüfen, wonach einer Person, der gegenüber das Unionsrecht durch eine nationale Verwaltung durchgeführt wird, das Recht auf eine gute Verwaltung zusteht. Dieses Recht umfasst die Behandlung ihrer Angelegenheit in einer angemessenen Frist. Eine überlange Verfahrensdauer, sei es in einem Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren, kann jedoch nur dann die Nichtigerklärung bzw. Aufhebung der am Ende des betreffenden Verfahrens getroffenen Entscheidung rechtfertigen, wenn diese Dauer die Fähigkeit der betroffenen Person, sich zu verteidigen, beeinträchtigt hat. Solche Umstände lagen im gegebenen Fall nicht vor.

Ergebnis

Dieses Urteil zeigt, wie weit die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten reicht. Solange das Unionsrecht keine Vorschriften vorsieht, können Mitgliedstaaten Regelungen in ihrem nationalen Recht vorsehen. Dies betrifft insbesondere das Verfahrensrecht, das die Modalitäten zur Durchsetzung von (Umsatzsteuer-)Ansprüchen normiert. Der Grundsatz der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten ist jedoch begrenzt durch die Prinzipien der Äquivalenz, der Effektivität, der Rechtssicherheit sowie der europarechtlichen Grundrechte.