Prof. Dr. Dr. h.c. Monika Bütler hat zuerst Mathematik studiert und ist Honorarprofessorin an der Universität St. Gallen, wo sie bis 2021 als ordentliche Professorin für Wirtschaftspolitik und Direktorin des von ihr mitgegründeten Schweizerischen Instituts für Empirische Wirtschaftsforschung tätig war. Sie ist Verwaltungsrätin bei Huber+Suhner, der Schindler Holding und Swiss Life. Monika Bütler gilt als eine der zehn einflussreichsten Ökonominnen und Ökonomen der Schweiz.

Im Gespräch mit unserem Prof. Dr. Reto Eberle geht sie auf sozial- und wirtschaftspolitischen Herausforderungen ein und fordert u.a. mehr Finanzausbildung an den Schulen.


Prof. Dr. Reto Eberle: Bei den grossen Themen – wie zum Beispiel der AHV – hat man das Gefühl, dass sich die Schweizer Bevölkerung schwer tut mit notwendigen Anpassungen und der nachhaltigen Finanzierung des Sozialversicherungssystems.

   

Monika Bütler: Die Altersversicherung ist in verschiedener Hinsicht speziell. Auf der einen Seite geht sie uns alle an, deshalb ist auch das öffentliche Interesse so stark. Auf der anderen Seite ist es kompliziert, in so langen Zeiträumen über mehrere Generationen denken zu müssen.

Bei der beruflichen Vorsorge, um eine weitere Grossbaustelle zu nennen, geht es um Verträge, die über 50-70 Jahre laufen. Ein solch langer Zeithorizont fordert uns als Stimmbürgerinnen und Stimmbürger. Für die Politik mit einem viel kürzeren Planungshorizont ist die Alterssicherung tückisch, mit Reformen lassen sich keine Lorbeeren gewinnen. Die direkte Demokratie macht umfassende Reformen nicht einfacher.

Allerdings beissen sich auch Länder mit anderen Regierungsformen daran die Zähne aus, wie die jüngsten Unruhen in Frankreich eindrücklich zeigen.


Unsere Tochter ist 18 Jahre alt und schliesst gerade das Gymnasium ab. Meine Erfahrung ist, dass der Lehrplan den Gymnasiasten wenig Finanzwissen mit auf den Weg gibt. Braucht es mehr finanzielle Grundausbildung an unseren Schulen?

   

Ja, unbedingt. Die wirtschaftliche Bildung im Allgemeinen und «Financial Literacy» im Speziellen kommen meiner Meinung nach viel zu kurz. Meine Söhne mussten für die Gymiprüfung diese Brunnenaufgaben lösen.

Niemand muss im Leben jemals eine Badewanne mit zwei Füllrohren und drei Abflüssen füllen, aber jede Person hat ein Bankkonto. Und die Zins- und Zinseszins-Berechnungen wären ja nicht komplizierter als Brunnenaufgaben, aber viel lebensnaher. Finanzielles Grundwissen sollte früh im Lehrplan aufgenommen werden, ganz sicher aber in den Berufsschulen und Mittelschulen.

Die Vorteile des traditionellen Familienmodells beibehalten und gleichzeitig auf eine modernere Arbeitsteilung umstellen, das geht nicht auf.


Müssen sich speziell auch Frauen stärker mit Finanzthemen beschäftigen?

Da gibt es sicher Defizite. Die fehlende Thematisierung in den Schulen ist aber nur ein Teil der Erklärung, dass die Frauen beim Finanzwissen gegenüber den Männern im Rückstand sind. Den Frauen fehlt oft auch das Übungsfeld, sprich, sie haben im mittleren Lebensalter wegen der Familienarbeit oft weniger Mittel zur Verfügung, die sie investieren könnten.

Zudem sind Frauen gemäss Studien risikoaverser als Männer und trauen sich weniger zu. Seit rund 20 Jahren gibt es glücklicherweise viele Initiativen und Aktivitäten, den Frauen die Finanzwelt besser zu erschliessen. Auch da haben engagierte Wissenschaftlerinnen zu vielen Fortschritten beigetragen.

Vielleicht noch einmal zurück zum Finanzwissen bei Jugendlichen. Was auch Sorge bereitet, ist die hohe Verschuldung von Jugendlichen. Man will sich in jungen Jahren Dinge wie Auto oder Reisen leisten, wofür man die finanziellen Mittel nicht hat. Diese jungen Erwachsenen starten dann bereits verschuldet ins Berufsleben.

Das ist leider so, aber neu ist das Phänomen nicht. Es ist verlockend, etwas sofort haben zu können, ohne darauf sparen zu müssen. Andererseits kann ein «Auf die Nase fallen» mit Schulden im jungen Alter, obwohl schmerzhaft, auch hilfreich sein für spätere Entscheidungen im Leben.

Wir beobachten zudem, dass auch Familien mit höheren Einkommen ohne Erspartes und ohne finanzielle Sicherheiten dastehen. Die Tugend des selbständigen Vorsorgens ist offenbar in vielen Teilen der Bevölkerung verlorengegangen. Sie ist vielleicht auch nicht mehr so notwendig. Wissenschaftliche Daten zeigen nämlich, dass Menschen tendenziell weniger Vorsorge betreiben und mehr Schulden haben in Ländern mit einem hohen Sozialversicherungsstandard. Wer weiss, dass der Staat für einen sorgt, muss weniger vorsorgen. Das ist völlig rational.