Wenige Märkte weltweit erfordern aktuell eine so komplexe Betrachtungs- und Herangehensweise wie die Ukraine. Der russische Angriffskrieg prägt das Land und dominiert internationale Schlagzeilen, die Gemengelage ist vielschichtig und volatil. Umso beeindruckender ist die fortwährende Resilienz der Ukrainerinnen und Ukrainer sowie der lokalen Wirtschaft. Unternehmen im deutsch-ukrainischen Wirtschaftskorridor zeigen sich angesichts des großen Potenzials der Ukraine zuversichtlich - das ist eine von mehreren bemerkenswerten Erkenntnissen des englischsprachigen German-Ukrainian Business Outlooks 2024, den wir gemeinsam mit der Deutsch-Ukrainischen Industrie- und Handelskammer (AHK) erstellt haben.
Mithilfe einer Geschäftsklimaumfrage haben unsere Expertinnen und Experten untersucht, wie insgesamt 142 Führungskräfte, deren Unternehmen im deutsch-ukrainischen Wirtschaftskorridor bereits tätig sind oder ein Engagement planen, den Status quo inklusive Wachstumschancen und Hemmnissen in der Ukraine einschätzen. Was sind die Erfolgsfaktoren? Was macht die Ukraine attraktiv? Und welche Details dämpfen den Optimismus? Die Bewertungen und Einblicke der Umfrageteilnehmerinnen und -teilnehmer ermöglichen vor dem Hintergrund diverser Wiederaufbauinitiativen erstmalig ein umfassendes Lagebild - und somit praxisrelevante Impulse.
Wirtschaftsstandort Ukraine: Aktuelle Entwicklungen
Nach Angaben des Internationalen Währungsfonds wächst der Wirtschaftsstandort Ukraine trotz des russischen Angriffskriegs. Während das Bruttoinlandsprodukt im ersten Kriegsjahr 2022 um 29 Prozent schrumpfte, erzielt die Ukraine im Jahr 2023 voraussichtlich eine Wachstumsrate von 3,2 Prozent. Für 2024 wird ein weiteres Wachstum von 6,5 Prozent prognostiziert. Wesentlichen Anteil hieran hat die Kriegswirtschaft, also die Produktion von Waffen und Munition, sowie das Aufrechterhalten beziehungsweise der Wiederaufbau der von Russland zerstörten Infrastruktur.
Andreas Glunz
Bereichsvorstand International Business
KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft
Nicolai Kiskalt
Partner, Leiter der Country Practice Mittel- und Osteuropa
KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft
Zahlen und Fakten
- 43 Prozent der befragten deutschen Unternehmen planen neue Investitionen in der Ukraine - trotz der Fortdauer des Krieges. Lediglich acht Prozent wollen deinvestieren.
- Wesentliche Voraussetzungen für einen Ausbau der Geschäftsaktivitäten sind politische und wirtschaftliche Stabilität (61 Prozent bzw. 51 Prozent) sowie die Verfügbarkeit öffentlicher Fördermittel und Garantien (28 Prozent).
- 42 Prozent erwarten in den nächsten zwölf Monaten eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage in der Ukraine. 48 Prozent erwarten keine Veränderung, zehn Prozent eine Verschlechterung.
- 48 Prozent sehen den Zugang zum ukrainischen Markt als größte Chance, 39 Prozent die Verfügbarkeit qualifizierter Arbeitskräfte und 36 Prozent die Beteiligung an Programmen zum Wiederaufbau des Landes.
- Mehr als die Hälfte nennt den Zugang zu lokalen Unternehmensnetzwerken (59 Prozent) sowie den Zugang zu Marktinformationen (54 Prozent) als wesentliche Geschäftsvoraussetzungen.
- Für 53 Prozent ist der fortdauernde Krieg die größte Hürde beziehungsweise Herausforderung, für 38 Prozent sind es Sicherheitsrisiken für die eigenen Mitarbeitenden und für 31 Prozent die lokale Korruption.
- Deutschland und die EU haben milliardenschwere Förderprogramme aufgesetzt. Aber 35 Prozent der Unternehmen glauben, dass die Mittel für ihre Zwecke ungeeignet sind. 20 Prozent kennen die Programme noch gar nicht.
Klar ist: Deutsche Investitionen können einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung der ukrainischen Wirtschaft leisten. Als große Industrienation bietet die Ukraine deutschen Unternehmen dafür enormes Potenzial, insbesondere in den Bereichen Produktion, Energie, Pharma sowie IT und Outsourcing.
Nicolai Kiskalt, Partner und Leiter der Country Practice Mittel- und Osteuropa,
KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft
Drei Kernerkenntnisse im Fokus
1. Investitionen und Wachstumschancen
Der Finanzierungsbedarf für das Aufrechterhalten und den Wiederaufbau der Infrastruktur der Ukraine ist immens. Laut Schätzungen der Weltbank werden sich die Kosten hierfür innerhalb des nächsten Jahrzehnts auf 486 Milliarden US-Dollar belaufen und sowohl öffentliche wie private Mittel erfordern. Dass mehr als vier von zehn befragten deutschen Unternehmen neue Investitionen in der Ukraine bereits in den kommenden zwölf Monaten planen, zeigt, dass sich auch diese hieran maßgeblich beteiligen wollen.
2. Voraussetzungen und Unterstützung für Unternehmen im deutsch-ukrainischen Korridor
Politische und wirtschaftliche Stabilität sind für mehr als die Hälfte der befragten deutschen Unternehmen die wesentlichen Voraussetzungen für einen Ausbau ihrer Aktivitäten in der Ukraine - im Fokus ist mit 28 Prozent indes auch die Verfügbarkeit öffentlicher Fördermittel und Garantien. Deutschland ist nach den USA mit 23,1 Milliarden Euro das mit Abstand zweitgrößte Geberland der Ukraine, weit vor Großbritannien (EUR 16,4 Milliarden) auf Rang drei. Bisher hat jedoch nur ein Zehntel der befragten Unternehmen die Programme aus Deutschland und der EU genutzt. Ein Viertel plant eine Nutzung in der Zukunft, jedes fünfte Unternehmen hat allerdings noch nie von den Programmen gehört - und 35 Prozent gehen davon aus, dass die Programme für ihre Zwecke ungeeignet sind.
Diese Ergebnisse unterstreichen die Notwendigkeit umfangreicherer Kommunikation über die bestehenden Fördermöglichkeiten sowie gegebenenfalls deren Adjustierung. Die Förderprogramme zum Wiederaufbau der Ukraine eröffnen insbesondere deutschen Unternehmen Geschäftschancen. Schlüsselsektoren für private Investoren sind die Bereiche Energie und öffentliche Infrastruktur im weitesten Sinne. Bedarf besteht aber auch in diversen Industrien und im Agrarsektor.
Andreas Glunz, Bereichsvorstand International Business, KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft
3. Hürden und Hemmnisse
Der anhaltende Krieg in der Ukraine bleibt für langfristige, nachhaltige Investitionen die größte Herausforderung für mehr als die Hälfte der Befragten. Besonders im Fokus stehen die Gefahren für die Sicherheit der eigenen Mitarbeitenden. Wichtigste Erfolgsfaktoren für Unternehmen, die ihr Geschäft in der Ukraine ausbauen wollen, sind starke Verbindungen zu lokalen Unternehmen und Netzwerken sowie umfassende und zugleich verlässliche Marktinformationen.
Eine komplexe Aufgabenstellung bleibt für Unternehmen während des Krieges allerdings auch die Suche nach qualifiziertem Personal: Das nach dem Ende der Befragung zum German-Ukrainian Business Outlook 2024 beschlossene und nun bereits in Kraft getretene Mobilisierungsgesetz wird die Verfügbarkeit von Arbeitskräften zusätzlich limitieren.
Geschäftsklimaumfrage: Die Methodik
Die KPMG AG Wirtschaftsprüfungsgesellschaft und die AHK Ukraine haben für die Geschäftsklimaumfrage 142 Unternehmen mit aktuellen oder künftigen Geschäftsaktivitäten in der Ukraine befragt. Der Durchführungszeitraum lag zwischen dem 23. April und dem 12. Mai 2024.