At-Risk-Maße sind heute noch nicht Standard

Eine der herausfordernden Aspekte des Treasury ist das Management der Risiken, die sich aus seinen originären Aufgaben (Bereitstellung von Liquidität, Finanzierung und Anlage, Management von Fremdwährungen) ergeben. Eine Grundvoraussetzung für das Management dieser Risiken ist die Identifikation der verschiedenen Risikofaktoren und die Quantifizierung der potenziellen Auswirkungen. Bezüglich der Identifikation der relevanten wesentlichen Risikofaktoren haben sich Standards im Treasury etabliert, an denen sich die meisten Unternehmen orientieren.

Weniger einheitlich sieht es bei der Quantifizierung von Risiken aus. Auf der methodischen Seite lässt sich eine kontinuierliche Weiterentwicklung von Kennzahlen, mathematischer Modelle und Berechnungsverfahren beobachten, welche die stetig wachsenden technologischen Möglichkeiten ausnutzen. Bei der praktischen Anwendung findet sich dagegen eher ein Spektrum unterschiedlicher Herangehensweisen.

Im Bereich des Marktrisikos finden nominales Exposure und einfache Sensitivitäten, wie eine fest vorgegebene Wechselkursveränderung oder eine konstante Parallelverschiebung aller Zinskurven, als primäre Kennzahlen immer noch weite Verbreitung. Beim Kreditrisiko gegenüber Banken bilden typischerweise Anlagevolumen und Rating den Kern der Limit-Vergabe und Anlagesteuerung. Die Verwendung von tatsächlichen Risikomaßen wie zum Beispiel Value-at-Risk oder Cashflow-at-Risk sind längst noch nicht Standard im Corporate Treasury. Und auch dort, wo sie als Kennzahlen bereits Teil des Berichtswesens sind, bilden sie häufig nicht das Herz der tatsächlichen Risikosteuerung.

Die Portfolioperspektive als Treiber

Nach der Identifikation der wesentlichen Risikofaktoren bildet die Ermittlung des zugehörigen Exposures den zweiten logischen Schritt in der Risikomessung. Innerhalb der komplexen Zusammenhänge der operativen und finanziellen Prozesse eines Unternehmens ist die Umsetzung nicht einfach. Die Herausforderungen reichen von Detailfragen wie dem im Buchungssystem tatsächlich zur Buchung verwendeten Wechselkurs (tagesaktueller oder doch Vortageskurs?) über organisatorische Fragen (woher können Plandaten zur Wechselkursicherung ohne währungsscharfe Planung kommen?) bis zu grundsätzlichen Fragen wie der Absicherung von Translationsrisiken oder der Zielsetzung des Zinsrisikomanagements. Die Auflösung dieser Fragestellungen und Weiterentwicklung der Prozesse zur Exposure-Ermittlung binden häufig einen guten Teil der verfügbaren Kräfte und bringen eine Fokussierung auf einfache, bestandsorientierte Kennzahlen mit sich.

Doch in diesem Fokus geht der Blick auf die Gesamtposition verloren: Das Zusammenspiel der unterschiedlichen Wechselkurse oder Märkte wird nicht berücksichtigt. Betrachten wir ein typisches Beispiel: Aus einer unterstellten Wechselkursveränderung von 10% lässt sich für jede Währung eine Wertveränderung des zu Grunde liegenden Portfolios bestimmen. Rechnerisch lassen sich dann die Einzelwerte zu einem Gesamteffekt zusammenrechnen, doch unterschiedliche Schwankungsbreiten und Abhängigkeiten zwischen den Währungen bleiben dann unberücksichtigt. Eine solche Kennzahl hat damit geringe Aussagekraft und ist für die Steuerung einer Gesamtposition oder eines Teilportfolios kaum geeignet.

Genau diesen Mangel beheben Kennzahlen wie die At-Risk-Risikomaße. Ausgehend von einer Zielgröße wie Marktwert (Value), Cashflow oder Ertrag (Earnings) lässt sich der Effekt eines „sinnvollen“ Szenarios für alle betrachteten Marktvariablen bestimmen. Die Definition von sinnvoll ergibt sich dabei aus einem vorgegebenen Sicherheitslevel (Konfidenzniveau). Die Möglichkeit den Gesamteffekt den einzelnen Risikofaktoren zuzuordnen bleibt dabei erhalten. Anstelle der separaten Steuerung der Einzelgrößen tritt jedoch das Management des Portfolios als zusammenhängende Größe.

In der praktischen Umsetzung kann dann zunächst das einfache Limit für Nominal oder Sensitivität pro Risikofaktor (als zum Beispiel Währung) durch ein At-Risk-Limit ersetzt werden, womit schon einmal die unterschiedlichen Volatilitäten berücksichtigt werden. Die Berücksichtigung von Diversifikations- und Cluster-Effekten zwischen den Risikofaktoren ergibt sich aber erst über den Wechsel von faktorspezifischen Limiten zu einem Portfoliolimit.

Herausforderungen

Während bei Banken das Management finanzieller Risiken Teil des Grundgeschäftes darstellt, ist das Corporate Treasury als notwendige Funktion neben dem eigentlichen operativen Geschäft typischerweise schlank aufgestellt, gerade auch in Bezug auf Kapazitäten für quantitative Methodik und Datenanalyse sowie der zugehörigen Software-Tools. Lösungen im Corporate Treasury bedürfen entsprechend eines hohen Grades an Automatisierung und Standardisierung und müssen sich in die bestehende IT-Landschaft gut integrieren.

Auch die Zusammenstellung von geeigneten Marktdaten ist in der Regel mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Ereignisse wie Währungen, die entfallen oder neu hinzukommen, Referenzzinsen, die wechseln, oder Veränderungen in Marktkonventionen müssen beim Aufbau und der Pflege von Datenhistorien richtig berücksichtigt werden. Wird bei einer Währungsumstellung beispielsweise keine künstliche Historie für eine neue Währung ergänzt, werden die gängigen Verfahren implizit einen konstanten Preis unterstellen und das tatsächliche Risiko unterschätzen. Zu den Zeitreihen für die eigentlichen Marktdaten können dann auch zusätzliche Daten wie Korrelationen oder Volatilitäten hinzukommen, die sowohl hinsichtlich Verfügbarkeit und Vollständigkeit besonderer Beachtung bedürfen.

Auf der methodischen Seite müssen nicht nur die richtigen Risikomaße festgelegt und zwischen unterschiedlichen Berechnungsverfahren (zum Beispiel modell-basierte Näherungsverfahren oder Simulationsansätze) gewählt werden, sondern auch Möglichkeiten zur Ergebnisverifikation für die betrachteten Zeiträume bedacht werden.

Neben diesen fachlichen Aspekten ist beim Wechsel zu einer Portfoliosicht und neuen Risikomaßen eine sorgfältige Einbindung aller betroffenen Bereiche notwendig.

Ein durchdachtes Vorgehen als roter Faden

Die Einführung von At-Risk-Risikomaßen ist kein Selbstzweck, sondern direkt mit einer Portfoliobetrachtung verbunden. Für eine erfolgreiche Umsetzung ist es notwendig, zunächst die Zielsetzung abzustimmen, da sich ganz unterschiedliche Anforderungen ergeben können. Beispielsweise fällt die Wahl des richtigen Berechnungsverfahren ganz unterschiedlich aus, wenn man eine retroperspektive, periodische Berechnung von At-Risk-Werten für reine Berichtszwecke neben eine Echtzeitberechnung für die aktive Steuerung der Position legt. Genauso ergeben sich aus der Wahl eines täglichen oder wöchentlichen Betrachtungszeitraums ganz andere Möglichkeiten zum Backtesting als bei einem Jahreshorizont und es sind gegebenenfalls auch unterschiedliche Markteffekte zu berücksichtigen.

Aus der Zielsetzung lassen sich also die möglichen Verfahren eingrenzen, die dann unter Berücksichtigung der kundenspezifischen System- und Datenlandschaft in eine geeignete Lösung gebracht werden müssen. An dieser Stelle ist eine sorgfältige Analyse notwendig, wenn am Ende ein hoher Grad an Automatisierung und Integration erreicht werden soll.

Auf diesen Grundlagen kann dann die eigentliche Implementierung erfolgen, die typischerweise die folgenden Blöcke enthält:

  • Marktdaten — Erhebung und Bereinigung der historischen Marktdaten, Ergänzung gegebenenfalls fehlender Marktvariablen und Sicherstellung eines Prozesses zur laufenden Datenversorgung und deren Qualitätssicherung
  • Systeme — Konfiguration bzw. Anpassung des Treasury-Management- oder Reporting-Systems, gegebenenfalls Integration eines separaten Tools zur Berechnung der Risikokennzahlen
  • Reporting — Anpassung und Erstellung der notwendigen Berichte zur Positions-, Daten- und Risikoanalyse
  • Limit-System — Adaption der Limit-Logik basierend auf den At-Risk-Risikomaßen und Festlegung initialer Limite
  • Validierung — Überprüfung der implementierten Lösung und Aufbau eines Prozesses zum regelmäßigen Backtesting

Die verschiedenen Arbeitspakete sind dabei nicht vollständig voneinander getrennt, sondern können (und müssen zumindest teilweise) parallel bearbeitet werden.

Der Aufwand lohnt sich

Für das Treasury ergeben sich beim Wechsel auf eine Portfolio-orientierte Betrachtung und den Einsatz passender Risikomaße wie Cashflow-at-Risk oder Value-at-Risk neue Möglichkeiten. Ein unmittelbarer Vorteil ist die (richtige) Berücksichtigung von Diversifikations- und Cluster-Effekten in der Risikomessung. 

Es öffnet sich damit auch die Tür für eine genauere Steuerung unter Abwägung von Risiko und erwartetem Ertrag. Prinzipiell kann so der Wertbeitrag des Treasury vergrößert werden, ohne dass dafür zwangsläufig größere Risiken eingegangen werden müssen.

Die Steuerung kann dabei klassisch über exogene Limite erfolgen, es besteht aber die Option – quasi als weitere Ausbaustufe – Ansätze aus der finanzmathematischen Portfoliotheorie anzuwenden, bei denen über geeignete Optimierungsalgorithmen eine bestmögliche Zusammensetzung des Portfolios bestimmt wird.

Die Umsetzung eines Portfolioansatzes kann dabei sowohl in Teilbereichen erfolgen, also beispielsweise speziell im Währungsmanagement, sie kann aber auch in einen ganzheitlichen Ansatz integriert werden, der sich beispielsweise in Form eines Risk Appetite Frameworks formulieren lässt und der über Märkte oder organisatorische Einheiten hinweg eine einheitliche, konsistente Abwägung zwischen Risiko und Ertrag forciert.

Quelle: KPMG Corporate Treasury News, Ausgabe 141, März 2024
Autoren:
Nils Bothe, Partner, Finance and Treasury Management, Corporate Treasury Advisory, KPMG AG
Dirk Bondzio, Senior Manager, Finance and Treasury Management, Corporate Treasury Advisory, KPMG AG