Die Märkte verändern sich

2022 war in vielerlei Hinsicht ein ereignisreiches Jahr. Durch die Brille des Treasurers gesehen stechen zwei Entwicklungen besonders heraus: Zum einen brachten politische Instabilitäten — neben anderen Treibern — Rohstoff-Risiken bei vielen Unternehmen wieder in den Fokus des Treasury. Zum anderen endete die über eine Dekade währende Ära der Niedrig- und Negativzinsen. Manch einer erinnert sich noch an die anfänglichen Herausforderungen beim Eintritt in diese Zeit, wie zum Beispiel die Diskussionen um Negativzinsen versus Verwahrentgelt, oder Treasury-Systeme, deren Funktionalität zur Abbildung von negativen Zinsen erst einmal nachgebessert werden musste. Von der Maximierung der Zinserträge verschob sich der Fokus auf die Vermeidung von Zinsaufwänden bei der Geldanlage – dafür war die Finanzierung erfreulich günstig und einige Unternehmen waren tatsächlich in der Lage, Erträge aus Negativzinsen zu realisieren. Die meisten Treasury-Abteilungen konnten sich somit schnell auf die Niedrigzinsphase einstellen. 

Durch die Länge und Stabilität der Niedrigzinsphase geriet allerdings das Thema Zinsrisiko etwas aus dem Blick des Treasury. Doch die Märkte haben sich verändert und es ist an der Zeit, die eigenen Prozesse und Methoden im Zinsrisikomanagement zu hinterfragen und gewissermaßen zu entstauben.

Zinsrisiko aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten

Anders als bei (Wechsel-)Kursrisiken lässt sich das Zinsrisiko nur schwer in einer einzigen Risikokennzahl erfassen. Es muss stattdessen aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. In der Praxis des Corporate Treasury dominiert dabei häufig die Cashflow-Sicht, in der veränderliche Zinszahlungen ein Risiko als potenzielle Abweichung vom Plan bzw. als potenzieller Liquiditätsverlust darstellen. Dabei bieten variable verzinsliche Anlagen und Finanzierungen den Vorteil, dass sie bei Zinsveränderungen einen stabileren Marktwert besitzen und keinen Aufschlag für eine langfristige Zinsbindung enthalten. Die Betrachtung über den Marktwert stellt die zweite typische Sicht dar, die in Unternehmen zumindest für Finanzanlagen verbreitet ist. In dieser barwertigen Betrachtung sind festverzinsliche Positionen die riskanteren.

Als weitere Perspektive kommt hier die Bilanzierungssicht in Spiel: Werden beispielsweise emittierte Anleihen zu fortgeführten Anschaffungskosten bilanziert, zeigt sich die Marktwertveränderung einer festverzinslichen Anleihe bei Zinsschwankung gar nicht sofort, sondern wird über die Gesamtlaufzeit realisiert. Das klingt zunächst wie ein Vorteil und ist eine Ursache dafür, dass Unternehmen sich auf variable Zinsen als Risikotreiber konzentrieren. 

Allerdings kann diese Sicht zu einer Fehlsteuerung führen. Betrachten wir dazu als Beispiel ein Unternehmen, das kurz vor der Zinswende langfristige, fest verzinsliche Anleihen emittiert hat. In der Bilanzierungssicht wird diese vorrausschauende Zinsfixierung erst einmal nicht belohnt, da die Anschaffungskosten unverändert sind — der Erfolg zeigt sich nur in der barwertigen Sicht richtig, die den Marktwert betrachtet. Hier deutet sich eine Besonderheit der Bilanzierungs- und der Cashflow-Sicht an, nämlich ihre periodische Betrachtungsweise: Für ein korrektes Bild müssten neben der aktuellen auch alle zukünftigen Perioden betrachtet werden, damit die langfristig fixierten, niedrigen Zinsen der emittierten Anleihe sichtbar werden.

Jede der verschiedenen Sichten hat damit ihre eigene Berechtigung und ihre eigenen „blinden Flecken“, so dass im Rahmen des Zinsrisikomanagement die verschiedenen Sichten parallel betrachtet werden sollten. Für jede dieser Perspektiven müssen dabei geeignete Kennzahlen definiert werden, die erst im Zusammenspiel ein vollständiges Bild des Zinsrisikos bieten. 

Szenarien sind der Schlüssel zur Risikomessung

Eine weitere Herausforderung bei der Beurteilung des Zinsrisikos ist die geeignete Modellierung der Zinsveränderung. Einfache Risikomodelle, welche die zukünftigen Veränderungen aus einer zeitlich begrenzten Historie schätzen (beispielsweise über einen EWMA-Ansatz basierend auf den Kursveränderungen der letzten Monate), stoßen hier naturgemäß an ihre Grenzen, da das sprunghafte Änderungsverhalten der Zinsen aus der kurzfristigen Historie nur sehr eingeschränkt ableitbar ist. Ähnlich wie unsere Intuition gewöhnen sie sich in einer Phase der Stabilität schnell an den status quo und unterschätzen dann das Risiko eines Zinssprunges. Auch ist es schwierig, Vorwarnindikatoren wie zum Beispiel Zentralbankankündigungen oder Nachrichten über politische Veränderungen in die zeitreihenbasierten Ansätze zu integrieren.

Einen Ausweg bietet hier die Analyse dedizierter Veränderungsszenarien. Darüber lässt sich mit moderatem Aufwand eine gute Zinsrisikomessung realisieren. Viele Unternehmen setzen Szenarioanalysen bereits ein, beschränken sich dabei aber häufig auf sehr einfache Varianten wie eine gleichmäßige Zinsveränderung von 100 Basispunkten über alle Laufzeiten. Dabei eröffnet die Szenarioanalyse durchaus größere Möglichkeiten. Bei geeigneter Definition können solche Szenarien Cashflow- und Marktveränderungen identifizieren, welche den Cashflow-at-Risk oder Value-at-Risk-Kennzahlen der gewünschten Konfidenz entsprechen und in ihrer Qualität die von einfachen Risikomodellen deutlich übertreffen. Zusätzlich eröffnet dieser Ansatz die Möglichkeit, bestehende Erfahrungen aus dem Bank-Bereich einfließen zu lassen, bei dem die detaillierte Szenario-Analyse zum Handwerkszeug im Zinsrisikomanagement gehört und Bestandteil der regulatorischen Anforderungen ist.

Ohne Planung geht es nicht

Sind die Fragen der Risikomessung über die Definition geeigneter Szenarien und Kennzahlen für die unterschiedlichen Perspektiven geklärt, scheinen auf den ersten Blick alle Bausteine da zu sein, um die eigene Position zu analysieren. Und tatsächlich kann die barwertige Betrachtung durch Anwendung der Szenario-Analyse auf der Ist-Positionen erfolgen. Aber in einer periodischen Betrachtung, wie sie in der Bilanzierungs- oder Cashflow-Sicht erforderlich ist, laufen die Ist-Bestände sukzessive aus und es ergibt sich ein falsches Bild.

Für eine richtige Darstellung müssen auslaufende Positionen also in geeigneter Weise fortgeschrieben werden. In einem ersten Wurf können dabei auslaufende Geschäfte einfach durch gleichartige (das heißt mit derselben Laufzeit und gleichem Typ von Finanzinstrument) ersetzt werden. Ein realistisches Bild ergibt sich aber erst bei Berücksichtigung zukünftiger Liquiditätsveränderungen. Hier bietet es sich an, das Zinsrisikomanagement mit bestehenden Planungsprozessen im Unternehmen zu verbinden, da diese typischer Weise die notwendigen Informationen schon beinhalten und die notwendige Fortschreibungslogik mit einfachen Mitteln abgeleitet werden kann.

Mit der Zinsablaufbilanz Risiken identifizieren

Ein weiterer Aspekt bei der Ermittlung des Zinsrisikos ist die Festlegung der Bestandteile, die in die Analyse einfließen sollen. Eine typische Herangehensweise ist dabei die Konzentration auf Finanzpositionen, also Finanzierungen und Geldanlagen. Methodisch empfiehlt sich an dieser Stelle die Erstellung einer Zinsablaufbilanz. Dabei werden die Aktiva und Passiva der bestehenden Position zusammen mit den geplanten Fortschreibungen hinsichtlich ihrer Zinsbindungsdauer gruppiert. Aus dieser Darstellung wird ersichtlich, für welche Fristigkeiten ein Zinsänderungsrisiko besteht.

Die Erstellung eines vollständigen Bildes inklusive der nicht-finanziellen Positionen erfordert eine aufwändigere Analyse, ermöglicht aber eine Gesamtsicht auf das Zinsrisiko, die auch Ausgleichseffekte zwischen finanziellen und operativen Positionen berücksichtigt. Die nicht-finanziellen Positionen werden dabei mit geeigneten Annahmen (zum Beispiel über geplante Betriebsdauern oder Abschreibungen) mit in die Zinsablaufbilanz aufgenommen.

Die Zinsablaufbilanz kann als Zwischenschritt zur Bestimmung der Kennzahlen in den unterschiedlichen Perspektiven genutzt werden oder ergänzend als visuelle Darstellung des Exposures, wenn eine direkte Berechnung der Kennzahlen über geeignete Systeme möglich ist.

Aktive Steuerung angehen

Neben der Methodik zur Risikomessung stellt sich für viele Unternehmen vor allem die Frage zum Vorgehen bei der Ermittlung einer richtigen Positionierung im Zinsbereich, also beispielsweise bei der Wahl des richtigen Verhältnisses von variabler zu festverzinslicher Finanzierung.

Die richtige Zinsstrategie muss sich an spezifischen Eigenschaften und Anforderungen eines Unternehmens orientieren. Drei wesentliche Aspekte sind dabei: 

Individuelles Profil: Die eigenen Unternehmens- und Geschäftscharakteristika wie zum Beispiel Abhängigkeit von Geschäftszyklen, Cashflow-Stabilität oder Verschuldungsgrad beeinflussen, welche Strategie für ein Unternehmen vorteilhaft oder überhaupt möglich ist.

Rahmenbedingungen: Um einen Lösungsraum für eine optimale Positionierung einzugrenzen, müssen die relevanten Dimensionen (zum Beispiel erlaubte Währungsräume, mögliche Finanzinstrumente, zulässige Nominale) und zugehörigen Einschränkungen erarbeitet werden. 

Zielsetzungen: Zur Bewertung einer Positionierung werden letztendlich Kennzahlen herangezogen, die sich aus den verschiedenen Anforderungen an das Zinsrisikomanagement ergeben, beispielweise Maximierung des Zinsertrages und Minimierung des Cashflow-Risiko.

Aufbauend auf eine Analyse dieser Aspekte kann dann ein Gesamtansatz zur Bestimmung der richtigen Zinsposition abgeleitet werden.

Quelle: KPMG Corporate Treasury News, Ausgabe 137, Oktober 2023
Autoren:
Nils Bothe, Partner, Finance and Treasury Management, Corporate Treasury Advisory, KPMG AG 
Dirk Bondzio, Senior Manager, Finance and Treasury  Management, Corporate Treasury Advisory, KPMG AG