Super-Contango im Rohöl Super-Contango im Rohöl
Keyfacts
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Eine in der Corona-Krise stark geminderte Nachfrage nach Rohöl bei weiterlaufender Förderung und beschränkten Lagerkapazitäten hat den Ölpreis kräftig fallen lassen und zu einem „Super-Contango“ geführt.
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Treasurer sollten prüfen, ob die bisherigen Strategien und Prozesse im Risikomanagement angemessen sind und ob Risikokreisläufe fähig sind, Unsicherheiten nachhaltig zu bewältigen.
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Unternehmen sollten die Krise nutzen, um sich robust und effektiv aufzustellen – ein neues Krisenszenario ist nicht unwahrscheinlich.
Die Corona-Pandemie und ihre Auswirkungen halten die Märkte weltweit in Atem. Nicht nur Gastronomie und Hotellerie, Einzelhändler, Automobilhersteller und Fluggesellschaften bekommen die wirtschaftlichen Folgen von Präventivmaßnahmen gegen die Ausbreitung des neuartigen Virus zu spüren. Betroffen sind auch Rohstoffhändler, insbesondere die, deren Geschäfte in engem Zusammenhang mit dem Preis für Rohöl stehen. Denn dieser sah in den vergangenen Wochen den größten Verfall seit Beginn des Future-Handels.
Grund hierfür sind gescheiterte Verhandlungen der OPEC-Staaten über Fördermengen, eine durch wirtschaftliche Einschränkungen geminderte Abnahmemenge und ein mangelndes Angebot von Lagerkapazitäten für Rohöl bei weiterlaufender Förderung. Händler und Spekulanten versuchen von gefallenen Ölkursen zu profitieren und stoßen teurere Ölkontrakte ab.
Dies hat einen weiteren Verfall des Ölpreises befeuert und damit ein sogenanntes Super-Contango am Ölmarkt verursacht. Am 20. April 2020 erreichte der Ölpreis für die Sorte WTI (West Texas Intermediate) erstmals in der Geschichte des Rohöl-Futures einen Stand von minus 37,63 US-Dollar pro Barrel für den Mai-Kontrakt.
Dieser mitunter einem technischen Effekt geschuldete „Black Swan“ dürfte den ein oder anderen Marktteilnehmer gänzlich überrascht haben. Als schwarzer Schwan werden höchst unwahrscheinliche Ereignisse bezeichnet, die nahezu unmöglich vorauszusagen sind, bei Eintritt jedoch massive ökonomische Auswirkungen haben. Es sind Ereignisse, bei deren Voraussage selbst komplexe Prognosemodelle und Szenarioanalysen an Ihre Grenzen stoßen.
Fragestellungen für das Risikomanagement
Nur weil man Black Swan Events nicht vorhersagen kann, sollte man sie keinesfalls unberücksichtigt lassen. Die derzeitige Marktsituation gibt Treasurern Anlass, die Angemessenheit der bisherigen Strategien, Methoden und Prozesse im Risikomanagement und die Ausgestaltung des Risikokreislaufs auf die Fähigkeit zur nachhaltigen Bewältigung von Unsicherheiten zu hinterfragen.
Black Swans können als extreme Stressszenarien berücksichtigt werden – der konkrete Auslöser ist dabei irrelevant, wichtig ist die Abschätzung der Auswirkungen eines möglichen Vorfalls auf die Unternehmenskennzahlen. Pandemien, Naturereignisse, politische Regulierungen und Verwerfungen, Finanzmarktzusammenbrüche, technische Disruption, Imageverluste und andere Ereignisse hat es in den vergangenen Jahren ausreichend gegeben, um das mögliche Ausmaß der Konsequenzen von Umsatzeinbrüchen oder Kostenexplosionen auf die Finanz- und Ertragslage des Unternehmens beurteilen zu können.
Die folgenden Fragestellungen – die ohnehin ein wirksames Risikomanagement prägen sollten – sind dabei elementar:
- Risikostrategie und Risikokennzahlen
Prüfen Sie, ob Ihre derzeitige Risikostrategie mit der unternehmerischen Zielsetzung übereinstimmt und ob die Bedeutung relevanter Risiken (Markt-, Kredit- und Liquiditätsrisiken) für das Unternehmen bekannt ist. Vergewissern Sie sich, dass die aktuellen Risikokennzahlen eine verlässliche Aussage über Auswirkungen auf die unternehmensspezifischen Performancekennzahlen (EBIT, Cash, Eigenkapitalquote), nach denen gesteuert wird, zulassen. Legen Sie eine klare Risikomanagementstrategie fest.
- Exposure-Erhebung
Überprüfen Sie die Höhe und den Entstehungszeitpunkt Ihres Rohstoffrisikos. Verschaffen Sie sich einen Überblick darüber, welche Geschäftsarten in das Exposure bzw. in die Sicherungsmengen einbezogen werden (physische Vorräte, physische Lieferkontrakte, finanzielle Kontrakte, Time Buckets, Lieferorte, etc.). Dabei ist auch zu berücksichtigen, inwieweit und ggf. mit welchem Zeitverzug die Risiken überwälzt werden können, da z. B. das Risiko überschätzt wird, wenn nur auf die Einkaufspreise für Rohstoffe geblickt wird, ohne gleichzeitig die Reaktionen der Verkaufspreise auf Veränderungen der Rohstoffmärkte zu berücksichtigen.
- Risikotragfähigkeit
Legen Sie fest, welches Risiko Sie in diesem strategischen Bereich zu tragen bereit sind. Wählen Sie eine geeignete Methodik, mit der Sie das Risiko messen und reporten können. Entscheiden Sie, welche Risiken eingegangen werden dürfen (Risk-Return-Profil). Dabei kann auch zwischen einer Grenze für die Geschäftstätigkeit in normalen Zeiten und einem zusätzlichen Puffer für Extremszenarien unterschieden werden.
- Sicherungsstrategie
Formulieren Sie vor dem Hintergrund Ihrer Ziele im Rohstoffeinkauf eine klare Sicherungsstrategie. Berücksichtigen Sie hierbei, ob die Möglichkeit des Eigenhandels bzw. des Eingehens von Market-Timing-Positionen besteht. Legen Sie die Methodik für die Erfolgsmessung Ihrer Sicherungsstrategie fest und führen diese regelmäßig durch (z. B. Benchmarking). Stellen Sie sicher, dass die Effektivität von Sicherungsbeziehung ökonomisch und buchhalterisch in Anbetracht der aktuellen Marktlage noch gegeben ist (z. B. Effektivität von Proxy-Hedges).
- Rahmenbedingungen für den Rohstoffhandel
Schaffen Sie eine klare Governance-Struktur, die eine Festlegung der Rahmenbedingungen im Rohstoffhandel zulässt und Verantwortlichkeiten klar regelt. Identifizieren Sie, wer Änderungen an den bestehenden Rahmenbedingungen vorgibt bzw. ob Ausnahmen bei der Einhaltung von Rahmenbedingungen möglich sind. Legen Sie fest, welche Produkte/Instrumente erlaubt für den Handel zulässig sind.
Kurz- und mittelfristige Folgen des Super-Contangos
Der massive Preissturz im Rohöl hat weitreichende Konsequenzen für Industrien entlang der Wertschöpfungskette. Betrachtet man beispielsweise den Rohölhandel, so sehen sich die dort agierenden Unternehmen und Treasury-Abteilungen mit folgenden Problemen konfrontiert:
- Zahlungsverzüge bzw. Zahlungsausfälle von Privat- und Großkunden (Tankstellen, Reedereien, Airlines, LKW-Flotten etc.) als Folge der Krise belasten die Liquidität von Handelsunternehmen. Diesen Zahlungsverzögerungen und ggf. Ausfällen stehen weiterlaufende Ausgaben (Lagergebühren, Logistik/Operations, Margining, Löhne) gegenüber.
- Minderabnahmen durch Kunden führen zu Mengen- und Prognoseabweichungen und damit zu Kosten für die Glattstellung bei der Positionsführung, sofern Mengen aufgrund knapper Lagerkapazitäten nicht physisch genommen werden können. Mittelfristig werden Kunden ausfallen und tragen somit zu zusätzlichen Mengen- und Prognoseabweichungen bei.
- Kurz- und mittelfristige Marktpreisschwankungen können zu einem zusätzlichen Liquiditätsbedarf durch in einem fallenden Markt ausgelöste Margin Calls im Beschaffungsportfolio führen. Auch Wiederveräußerungsrisiken verstärken sich durch die gefallenen Märkte weiter.
- Ausbleibender Zahlungsfluss und drohende Rezession verringern die Bonität und verschlechtert damit Verfügbarkeit und Konditionen für Finanzierungen bei Banken und am Kapitalmarkt.
Was jetzt zu tun ist – Kräfte sammeln in der Krise
Unternehmen sollten die Krise nutzen, um sich robust und effektiv für die nächste Krise aufzustellen, denn ein neues Super-Contago, mit Auslaufen des Juni 20 Futures, ist nicht unwahrscheinlich. Folgende Schritte können hierbei einen entscheidenden Beitrag leisten:
- Einbau von Stresstests in das Risikomanagement
Das bestehende Risikomanagement sollte – neben der Überprüfung der Berücksichtigung der oben genannten Punkte – um Stressszenarien erweitert werden. Daraus lässt sich dann ableiten, welche Konsequenzen Extremfälle haben können und welche Vorsorge (z. B. Liquiditätsreserve, Eigenkapitalreserve) dafür getroffen werden müsste. In diesem Zusammenhang sind integrierte Berechnungsmodelle, die alle wesentlichen Einflussfaktoren berücksichtigen, notwendig. Solche umfassenden Möglichkeiten zur Modellierung von Risikoauswirkungen erlauben auch das Ableiten von Frühwarnindikatoren, um ein sich bedrohlich veränderndes Umfeld rechtzeitig erkennen zu können. Wer erst bei Eintreten kritischer Situationen anfängt, seine Liquiditätstreiber und deren Wirkungsgrad sowie die Struktur der Cashflows zu erheben, der verliert wichtige Reaktionszeit.
- Transparenz schaffen
Zur schnellen, umfassenden und verständlichen Identifizierung und Kommunikation von Marktverwerfungen und anderen Unsicherheiten bedarf es neben einer ganzheitlichen Betrachtung des Risiko-Exposures auch einer etablierten Lösung zur Darstellung der Auswirkungen auf die für Ihr Unternehmen relevanten KPIs. Die Nutzung leistungsfähiger ETL-Tools (z.B. Alteryx) sowie Forecasting-Modelle und Simulationsinstrumente, verknüpft mit einem BI-gestützten Dashboard-Reporting hilft Ihnen dabei. Insbesondere kann so auch dem Top-Management – bei Bedarf in Echtzeit – eine sich kritisch entwickelnde Situation deutlich vermittelt werden.
- Möglichkeiten für die Anwendung von Hedge Accounting nach IFRS 9 überprüfen
Mit der Veröffentlichung des IFRS 9 haben sich die Möglichkeiten für die Bilanzierung von Grund- und Sicherungsgeschäften im Hedge-Accounting für Rohstoffhändler deutlich erweitert. Hedge Accounting sorgt auch in Zeiten volatiler Märkte für eine Stabilisierung Ihres Ergebnisses (Fair Value through Other Comprehensive Income, FVOCI).
- Frage der Bilanzierung von Vorräten nach IAS 2 überprüfen
Nach IAS 2 sind Vorräte eines Unternehmens grundsätzlich mit dem niedrigeren Wert aus Anschaffungs- oder Herstellungskosten und Nettoveräußerungswert anzusetzen. Für Unternehmen, die unter die Broker-Trader Exemption fallen, gilt jedoch eine Bewertung der Vorräte zum Fair Value. In der jetzigen Marktsituation mündet dies ggf. in massiven Wertänderungen, die als Aufwand in der Gewinn- und Verlustrechnung innerhalb der Berichtsperiode erfasst werden müssen.
- Nutzung des Contango-Spiels
Die derzeitige Marktlage im Rohöl bietet auch viele Chancen. Der Spotpreis beispielsweise für den ICE Gasoil Future liegt derzeit 100 US-Dollar unterhalb des Preises für Lieferung im Dezember 2020. Hierdurch entstehen Möglichkeiten für ein Contango-Spiel, sofern das Differential alle entstehenden Kosten (Lagergeld, Logistik-/Abwicklungskosten) und die Zielmarge abdeckt. Die Eindeckung mit physischem Öl stellt in Anbetracht der aktuellen Ölschwemme kein Problem dar, sofern genug Lagerkapazität vorhanden ist. Natürlich sind hierbei die klassischen Risiken für das physische Geschäft zu berücksichtigen (Lieferantenausfallrisiken, Qualitätsaufschläge/-abschläge etc.).
Nicht zuletzt helfen solche Krisenereignisse dem Treasurer, die Notwendigkeit und den Nutzen eines wirksamen und umfassenden Risikomanagements für Marktpreis-, Liquiditäts- und Ausfallrisiken der Unternehmensleitung und dem Kosten-Controlling vor Augen zu führen und die dafür erforderlichen Budgets auch genehmigt zu erhalten. Umgekehrt würde sich ein Treasurer, der nicht ausreichend auf Krisen vorbereitet ist, sich beim nächsten Auftreten von Extremfällen dem Vorwurf aussetzen, aus der Vergangenheit nicht gelernt zu haben und nur als „Schönwetterkapitän“ die Unternehmensfinanzen zu steuern.