Im Interview spricht Nationalratspräsidentin Irène Kälin darüber, wie sie das Parlament im neuen Jahr führen will und welche Herausforderungen in der Grossen Kammer auf sie warten.
Irène Kälin, Nationalratspräsidentin der Schweiz 2022
Mit welchen Herausforderungen ist das Parlament Ihrer Ansicht nach mit Blick auf das neue Jahr 2022 konfrontiert? Welche Prioritäten wollen Sie als Nationalratspräsidentin verfolgen?
Die globale Klimakrise ist weiterhin ungelöst, gerade nach den sehr vagen Versprechen und Fortschritten von Glasgow im vergangenen November. Und mit der Ablehnung des CO2-Gesetzes stehen wir auch in der Schweiz nicht gut da. Handeln tut mehr als Not. Auch das Verhältnis zur EU ist eine offene Baustelle. Wir sind mitten in Europa und müssen alles daran setzen, dass wir wieder geregelte Beziehungen haben. Und natürlich stecken wir noch immer in der Corona-Krise und die Lage ist leider wieder weitaus besorgniserregender als erhofft. Ich hatte viel Hoffnung, dass ich die Präsidentin sein werde, die zurück in die Normalität führen darf, aber wenn ich in unsere Nachbarländer schaue und die hohen Fallzahlen bei uns, dann bin ich nicht mehr so sicher, ob das Licht am Ende des Tunnels schon zu sehen ist. Das erfüllt mich mit ebenso tiefer Sorge wie die Sorge um den Corona-Graben, der quer durch uns Land verläuft. Als 200. Nationalratspräsidentin habe ich mir das Ziel gesetzt, das Thema «Vereinbarkeit» in den Vordergrund zu stellen. Es ist mir ein grosses Anliegen, die Vereinbarkeit unterschiedlicher Lebensrealitäten und Perspektiven zu fördern. Nicht nur in Bezug auf die Pandemie.
Die Staatshilfen zur Minderung der Coronafolgen auf die Schweizer Wirtschaft hat die Staatsverschuldung massiv beeinflusst. Wie möchte Bundesbern das Defizit wieder verkleinern (z.B. durch Steuererhöhungen)?
Ja, die Staatshilfen zur Bewältigung der Coronakrise haben die Staatsverschuldung beeinflusst, aber bevor wir über den Schuldenabbau sprechen, scheint es mir angezeigt festzuhalten, wie sehr diese finanziellen Massnahmen der Schweizer Wirtschaft geholfen haben. Wir sind in wirtschaftlicher Sicht (bisher) gut durch die Krise gekommen. Die Arbeitslosenzahlen sind nicht explodiert, ebenso wenig die Konkurse. Und schon heute steht die Wirtschaft wieder gut da. International sogar sehr gut.
Nach zwei Jahren, in denen der Haushalt geprägt war durch hohe Corona-Ausgaben, zeichnet sich für den Budgetvoranschlag 2022 eine Normalisierung ab. Gemäss geltendem Recht muss der durch die Schulden aufgrund der Coronakrise verursachte Fehlbetrag auf dem Amortisationskonto grundsätzlich innerhalb von sechs Jahren ausgeglichen werden. Das Amortisationskonto wies Ende 2020 ein Minus von 9,8 Milliarden Franken aus. Für das Jahr 2021 gab das Parlament bereits ausserordentliche Mittel von mehr als 20 Milliarden Franken für die Bewältigung der Folgen der Coronakrise frei. Da der rasche Schuldenabbau zu massiven Budgetkürzungen führen und die Konjunkturerholung beeinträchtigen würde, was in der aktuellen Lage mehr als falsch wäre, wird der Bundesrat dem Parlament Anfang dieses Jahres eine Botschaft zum coronabedingten Schuldenabbau vorlegen. Zur Diskussion stehen zur Zeit zwei Varianten. Die erste Variante sieht einen mittelfristigen Abbau durch zukünftige Finanzierungsüberschüsse vor. Die zweite Variante enthält die Option, nur die Hälfte der Schulden abzubauen. Beide Varianten sind aus heutiger Perspektive ohne Sparprogramme umsetzbar und auch ohne Steuererhöhung.
Umweltschutz ist Ihnen ein Anliegen. Sie setzen sich für die Klimajugend, die Artenvielfalt und die Zukunft der Kinder ein. Wie wollen Sie dieses Thema in Ihre politische Agenda als Nationalratspräsidentin aufnehmen?
Als Nationalratspräsidentin leite ich die parlamentarischen Sitzungen und lege mit meinen Kolleginnen und Kollegen des Büros des Nationalrates die Traktanden der Sessionen fest. Ich bin also dafür verantwortlich, was im Rat geschieht und repräsentiere das Schweizer Parlament gegen aussen, etwa bei offiziellen Besuchen. Abstimmen kann ich als Nationalratspräsidentin im Rat allerdings nicht, es sei denn, es herrsche Stimmgleichheit oder die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder jedes Rates sei erforderlich. Meine politische Macht ist also beschränkt. Meine Rolle ist die einer Brückenbauerin, einer Vermittlerin – Parteipolitik steht in diesem Jahr nicht im Vordergrund. Aber klar bin ich eine Grüne und das wird man auch sehen und spüren. Aber es liegt leider nicht in meiner Macht, die Klimakrise zu beeinflussen, ich kann nur immer wieder daran erinnern, dass wir alle nur diese eine Erde haben und dass wir es unseren Kindern schuldig sind zu Handeln.
Welches sind Ihres Erachtens die politischen Grossbaustellen in der Schweiz?
Die Pandemie mitsamt den sozialen und wirtschaftlichen Folgen wird uns sicher noch länger stark beschäftigen. Gerade wieder viel stärker, als gehofft. Der Klimawandel ist eine globale Grossbaustelle und wir haben eine Beziehungskrise mit der EU. Neben diesen Grossbaustellen sind auch die Chancengleichheit und Vereinbarkeit von Beruf und Familie noch im Rohbau. Die Schweiz rühmt sich gerne als fortschrittliches und familienfreundliches Land. Aber das sind wir nicht. Im Gegenteil: Wir sind familienpolitisch ein Entwicklungsland. Ich sehe uns am Schalthebel der Macht gefordert, mehr Vereinbarkeitsstrukturen zu schaffen damit Eltern nicht wegen der Unvereinbarkeit den Job an den Nagel hängen, wegen zu teuren Drittbetreuungskosten teilweise aus ihrer Erwerbstätigkeit aussteigen oder ungewollt in Rollenmuster gedrängt werden, die sie nicht gewählt haben. Denn mangelnde Vereinbarkeit ist nicht nur für die Betroffenen ein täglich spürbarer Mangel, sondern schlägt sich ebenso deutlich im Fachkräftemangel nieder.
Welche Ziele verfolgen Sie für das Amtsjahr als Nationalratspräsidentin? Wollen Sie auf Ihrer Position die Kernanliegen Ihrer Partei voranbringen?
Ich will die Vereinbarkeit gleich doppelt zum Thema machen. Zum einen die gesellschaftliche Dimension von Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Politik, wie bereits erwähnt. Zum anderen meine ich aber auch die Vereinbarkeit von verschiedenen Meinungen. Wir haben eine politische Kultur der Einbindung möglichst aller Meinungen. Trotzdem komme ich zum Schluss, dass wir die Vereinbarkeit von verschiedenen politischen Meinungen und Positionen nicht immer so gut hinbekommen, wie wir es sollten. Denn Vereinbarkeit würde hier bedeuten, dass wir Lösungen und Kompromisse ausarbeiten, die die Probleme lösen und vor dem Volk Bestand haben.
Eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist Ihnen sehr wichtig. Wie setzen Sie das persönlich um?
Ich war bis zum Tag vor der Geburt meines Sohnes im Nationalrat und eine Woche danach wieder. Das war ein Spagat zwischen Stimmabgabe und Stillen und heute kann ich sagen, es hat funktioniert. Aber es funktioniert eben nur, wenn man ein unterstützendes Umfeld hat und jedes Rädchen im Vereinbarkeitssystem (Kita, Papa, Eltern und ich) einwandfrei funktionieren. Fällt jemand aus, fällt das System in sich zusammen. Deshalb bin ich der festen Überzeugung, dass wir gut beraten sind, wenn wir – wie viele andere Länder es bereits getan haben – mehr Vereinbarkeitsstrukturen schaffen.
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