Der stationäre Handel ist nicht tot

Expertengespräch mit Melanie Tschugmall

Ein Expertengespräch zwischen Florin Janine Krapp, Partnerin bei KPMG, und Melanie Tschugmall, Leiterin Retail und Konsumgüter bei Zühlke.

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Melanie Tschugmall und Florin Janine Krapp

Melanie Tschugmall und Florin Janine Krapp

Der Druck auf die Margen im Einzelhandel steigt stetig, so dass herkömmliche Formen der Sortimentsanpassung und Kostensenkung nicht mehr reichen, um Detailhandelsunternehmen langfristig zukunftsfähig zu machen. Die Frage ist, wie sich Unternehmen heutzutage einen Wettbewerbsvorteil verschaffen können. Welche grossen Trends in der Branche siehst du?

Der Einzelhandel ist tatsächlich unter Druck, wobei zu sagen ist, dass es bereits vor COVID-19 Veränderungen im Bereich Retail gab. Ich denke beispielsweise an Themen wie Nachhaltigkeit, Direct-to-Consumer und an das Kundenbedürfnis, Produkte rund um die Uhr und sofort zur Verfügung zu haben. Die Branche ist in einer andauernden Transformation und bringt viele Innovationen hervor.

Als die ersten COVID-Massnahmen eingeführt wurden, fielen über Nacht bekannte Customer Journeys oder auch Absatzkanäle weg. Zum Beispiel durch die Teilschliessung von Non-Food-Retail, aber auch durch den Wegfall von Pendlerströmen. Was sich sicherlich gezeigt hat, ist die digitale Verschiebung der Kundeninteraktion. Das gilt nicht nur für die Kauftransaktion selbst, sondern auch in der Informationsgenerierung und beim Suchen von neuen Produkten und Services. Die Corona-Krise hat diese Entwicklungen ganz klar akzentuiert und beschleunigt.

Worauf muss der Detailhandel aufgrund dieser akzentuierten und beschleunigten Entwicklungen jetzt besonders achten, um am Ball zu bleiben?

Um in diesem veränderten Umfeld relevant zu bleiben, sollten Einzelhändler einen klaren Nordstern setzen, vor allem um das Kundenerlebnis herum, und davon sämtliche strategische Initiativen und taktische Entscheidungen ableiten. So behält man Fokus und Schnelligkeit, um eben auch in dieser sehr schnelllebigen Zeit relevant zu bleiben und einen Kompass zu haben. Ein agiles Mindset und ein erhöhtes, digitales Engagement sind hier erfolgskritisch. Das heisst, mutig ausprobieren, testen, lernen und adaptieren. Retailer müssen also kontinuierlich innovativ sein.

Wichtig ist auch, dass die Einzelhändler das Gesamtsystem im Auge behalten. Wenn ich beispielsweise an der Kundenfront Prozesse verändere, wirkt sich dies auch auf die IT-Systeme aus. Auf der anderen Seite können veraltete IT-Systeme dringend notwendigen Innovationen im Wege stehen.

Wie sieht es mit der Innovationskraft im Detailhandel tatsächlich aus? Gibt es eine Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit?

Ich kann hier erfreulicherweise sagen, dass ich bei unseren Kunden und generell bei Unternehmen in der Schweiz verstärkt feststelle, dass sie sich proaktiv innovativen Themen annehmen. Man kann sogar sagen, dass auch COVID-19 teilweise zu einer Aufbruchsstimmung beigetragen hat – auch im Sinne von «Not macht erfinderisch».

Was sich dazu noch sagen lässt: Oft denkt man noch zu inkrementell. Mit den erwähnten radikalen Veränderungen braucht es zusätzlich auch ganz neue Antworten und Ansätze. Um diese rasch zu erreichen, sollte man vermehrt auf das Vorgehen von datengesteuerten Innovationen setzen. Also konkret mit Hypothesen experimentieren, diese messen und verstehen, um zukünftig bessere Entscheidungen zu treffen.

Wie äussert sich diese Aufbruchstimmung? Wie packt ihr als Innovationsdienstleister das Thema Innovation mit euren Kunden an?

Eine zentrale Frage, die sich uns immer wieder stellt, ist: Wie kommen wir von guten Ideen zu effektiven, marktfähigen Innovationen, die von den Kunden nachgefragt werden. Zur Klärung dieser Frage haben wir letztes Jahr zusammen mit der HSG eine grosse Konsumentenbefragung durchgeführt; mit dem Fokus auf kontaktlosen Einkauf. Spannend ist die Quintessenz, dass das Format «Selbstservice-Laden» eine grosse Attraktivität aufweist für die Endkonsumenten. Das heisst, dass der stationäre Handel nicht tot ist.

Dennoch kann man sich nicht auf den Lorbeeren ausruhen. Es ist gerade jetzt umso wichtiger, bestehende Formate und Dienstleistungen nicht einfach zu optimieren, sondern radikal zu hinterfragen. Denn wir haben gesehen, dass neu getestete Formate immer mehr Akzeptanz finden. Datenanalysen sowie künstliche Intelligenz können hier wertvolle Einsichten bieten und zu neuen Lösungen beitragen.

Du sagtest sehr schön: Die physische Präsenz im Detailhandel verliert eigentlich nicht an Bedeutung, sie verändert sich nur. Was meinst du damit?

Wie die Studie, die wir mit der HSG durchgeführt haben, gezeigt hat, ist der stationäre Handel an sich noch lange nicht tot. Wir alle sehnen uns nach dem physischen Einkauf und dem damit verbundenen Erlebnis. Ich glaube jedoch, wir werden den Detailhandel in veränderter Form wiederfinden. In Zukunft werden Unternehmen dank den neuen Möglichkeiten der datengestützten Interaktionen die Kundenbedürfnisse noch gezielter analysieren können. Wo muss ich mein neues Geschäft eröffnen? Mit welchen Produkten erreiche ich die gewünschte Zielgruppe? Wie muss das Regal aussehen? Das Potenzial ist enorm.

Und wie sieht die Zukunft deiner Meinung nach aus?

Ich bin gespannt auf innovative Formate, im Kontext der Verschmelzung von Online und Offline. Persönlich richte ich immer gerne einen Blick nach Asien. Livestreaming ist dort gerade gross im Trend. Ich bin gespannt, wann wir diesem Trend in der Schweiz begegnen.

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